Der lange Weg des Weltmeisters nach Olympia

Wenn sich morgens bei rotleuchtendem Sonnenaufgang der kaltfeuchte Nebel auf dem Lago di Sabaudia nur langsam verzieht, hört man schon das rhythmische Schlagen zahlreicher Ruderblätter in der Luft des noch jungen Tages. Die Weltmeister aus dem Deutschen Ruder-Doppelvierer und auch alle anderen Skuller des DRV trainieren insgesamt knapp vier Wochen eisenhart im traditionellen Trainingslager in Italien. Zwei- bis dreimal am Tag voller Einsatz für das große Ziel Olympia 2004 in Athen. Unter Ihnen auch der 30jährige Weltmeister aus Ratzeburg: Marco Geisler.
Und dass auch manchmal die allerkleinsten die Größten schlagen können, musste der Polizeimeisteranwärter vom BGS Ratzeburg nun einmal selbst erfahren. Nachdem der Zweimeter-Modellathlet im vergangenen August bei den Weltmeisterschaften noch den Rest der Welt im Doppelvierer beherrschte, wurde der 100kg-Hüne nun von einem Grippevirus zu Fall gebracht, der ihn ein paar Tage wertvoller Trainingszeit kostet. Dadurch verpasst der erfolgreiche RRC-Skuller die internen Ausscheidungsrennen über 2000m im Skiff unter den Augen der Bundestrainer. Da Geisler mit 5:46min den physisch stärksten und schnellsten Kraftwert auf dem Concept-II-Ruderergometer über 2000m vorzuweisen hatte, ist er ebenso wie WM-Mannschaftspartner Andre Wilms, der ebenfalls erkrankt ist, noch im Rennen um die begehrten Rollsitze im Vierer. „ Wenn alle ihre normalen Leistungen bringen und sich keine Blöße bei den zahlreichen Tests geben, wird der Vierer vermutlich wie bei der beeindruckenden WM-Goldfahrt in Mailand an den Start gehen. „Never change a winning team“ ist da die Devise, die sich über die Jahre bewährt hat“, sieht Geisler seinen Olympiaplatz bei konstanter Leistung noch in absoluter Reichweite.
Anfang April geht es dann für das DRV-Skullteam direkt nach Halle/Saale zum 500m-Sprintcup. Die Kaderlangstrecke in Leipzig einen Tag zuvor wird wegen der zu starken Belastung nach dem Klimawechsel von Italien nach Deutschland ausgelassen und wurde bereits intern über 6000m in Sabaudia ausgefahren. Der DRV-Frühtest in Köln Ende April stellt dann das Finale der nationalen Ausscheidungen dar. Die meisten schweren Skuller werden dort wohl im Doppelzweier an den Start gehen, da sich Deutschland in dieser Bootsklasse noch für Olympia auf dem Luzerner Rotsee qualifizieren muss. Dafür werden vor allem die sogenannten FES-Messboot-Resultate aus Italien zu Rate gezogen. Denn der ehemalige RRC-Coach Mark Amort wertet die Kraft-Beschleunigungskurven, die die Athleten bei Testfahrten ans Blatt bzw. ins Wasser bringen haargenau aus und gibt in Zusammenarbeit mit FES in Berlin dann Empfehlungen, welche Ruderer vom Kraftverlauf her besser oder schlechter zusammen rudern können.
Danach folgt die wohl härteste Saison aller Zeiten für die Ruderer. Da die Organisatoren der Olympischen Spiele zusammen mit der FISA und dem IOC erklärt haben, dass bei zu erwartenden extremen Stürmen auf der äußerst ungünstigen und schon oft kritisierten Regattabahn in Athen, entweder viele Rennen kurz nacheinander folgen oder die Distanz auf 1000m verkürzt, bleiben absolut unmöglichen Ruderbedingungen der schlimmste Albtraum der Aktiven, denn dann könnten die gezeigten Saisonleistungen bei den World-Cups für das Zünglein an der Waage in Frage kommen. Deshalb muss Marco Geisler ab Mai auf allen Wettkämpfen mehr als Vollgas geben. Sowohl bei der Internationalen Regatta in Duisburg, als bei den folgenden World-Cups in Poznan (Polen), München und Luzern müssen die Rennen um jeden Preis gewonnen werden, für den nicht unwahrscheinlichen Fall, dass die Winde in Athen faire Rennen unmöglich machen. So etwas hat es in der Geschichte des olympischen Rudersports bisher noch nicht gegeben. Und bei der Generalprobe 2003 auf der gleichen Rennstrecke wurden die Rennen erst auf 1000m verkürzt und trotzdem liefen einige Boote so voll Wasser, dass die Ruderer ihr Boot schwimmend über die Ziellinie ziehen mussten, um nicht disqualifiziert zu werden. „Man hat uns jetzt gesagt, dass die Wahrscheinlichkeit im August mit einer windstillen Woche auf der Strecke bei etwa 5-10% liegt. Den Rest können wir uns ja ausmalen. Aber selbst diese makabren Aussichten auf einen vielleicht nicht ganz fairen Wettkampf halten uns nicht auf. Wir ziehen unsere Vorbereitung ohne Rücksicht auf Verluste durch. Und nach den zwei Höhentrainingslagern in Villach und Kaprun, sowie der Olympischen Restvorbereitung in der Ruderakademie Ratzeburg geht es für uns eine Woche vor den Rennen nach Athen“, erzählt ein noch verschnupfter Marco Geisler vom Krankenbett im Gespräch mit den LN. Und nachdem er 1996 in Atlanta „nur“ Ersatzmann zusammen mit dem Ratzeburger Ingmar Guhl war, 2000 in Sydney nach einer starken Saison am Ende „nur“ Bronze im Vierer blieb und Marco Geisler 2003 im Mittelschiff den deutschen Vierer zu einem überragenden WM-Sieg trieb, braucht ihn keiner mehr zu motivieren, weil er sein Ziel, die olympische Goldmedaille schon lange vor Augen und in seinen Träumen hat. Jetzt wird der RRC-Weltmeister ganz schonend bis Halle wieder sein Training aufbauen und alle Gegner angreifen, die sich dem großen Lebensziel in den Weg stellen wollen.
Und ganz gleich wie das Ergebnis auch ausgeht, Marco Geisler ist kein Mann, der sich lange ausruht. Direkt nach der Olympiade bleiben nur wenige Tage zum Durchatmen, denn von Anfang September bis Februar 2005 bestreitet Geisler seinen letzen Fortbildungslehrgang in Cottbus beim BGS-Leistungssportförderprojekt aller olympischen Sommersportarten und schließt als Polizeimeister seine Ausbildung ab. Wie die Ruderkarriere danach weitergeht hängt sicherlich auch vom Abschneiden in Athen ab. Denn wer 15 Jahre von der Goldmedaille träumt wird sicherlich alles tun, um dieses Ziel zu erreichen, egal wie lange es dauert. Und gerade im Rudersport kann man auch im höheren Alter über 30 Jahre noch absolute Spitzenleistung auf der 2000m-Strecke bringen, wie jüngst Sir Steven Redgrave(GB) mit fünf Goldmedaillen bei fünf verschiedenen Sommerspielen bewiesen hat. Geht nicht, gibt’s nicht. Und Marco Geisler war sicherlich nie stärker, als in diesem so wichtigen Ruderjahr 2004.