Der zweite Weltmeisterachter (1966) 1)

“Encore cinq minutes!” Das Megaphon schallt über den malerischen See, eingebettet vor den Karawanken in waldige Hügel, überragt von alter Burg und Titos Sommervilla. Der Weltmeisterschaftendlauf im Achter ist startbereit. Fiebern, Spannung, Konzentration: “Encore trois minutes!” Die schlanken Boote formieren sich an den Pontons. “Ausrichten!” “Encore une minute!” “Union soviétique prête,…Allemagne fédéral prête!” Ich weiß, was die Athleten denken: “Zusammenreißen! Jetzt oder nie!” – “Êtes vous prêts? – Partez!” Der Startruf entfesselt ein hektisches Getöse schriller Steuermannsschreie, das metallische Knallen der Rollsitze, chaotische Startspritzer: Spurt: ” – und drei, und vier und ….zehn!” “44er Schlag!” – und nun: “Streckenschlag…!” Das große Finale ist unterwegs.

Die Erinnerung greift vierzig Jahre zurück. Uns führte nur ein recht verwinkelter Weg zum See und Rennen in Bled. Jahrelang hatten wir, Athleten wie Trainer, uns diesem Ziel verschrieben, hatten zu zweit den Achter bei Spaziergang im Grunewald zu Berlin gegründet: zwei Erfolgsvierer, Vizeeuropameister, bildeten den Grundstock. Dann war kaum mehr Zeit für etwas Anderes außer täglichem Training; Ferntraining im Einer, doppeltes Training mit der Mannschaft am Wochenende – das erste Jahr in Karlsruhe oder Berlin, das zweite in Ratzeburg. Trainingspensum, Trainingslager, Regattareisen, Rennpläne und Rennzeiten, Bootstrimmung, Formschwankungen, Ernährung, Technik, Strategie. Bestzeiten im Training auf dem Rheinhafen – und doch: eine Niederlage bei der Mannheimer Meisterschaft, weil ein Riemen beim Einsteigen vorm Start eine Kopfwunde schlug, die gleich genäht werden musste. Im nächsten Jahre Neuformierung. Was galten noch die zuvor erruderten Deutschen und Vizeeuropa-Meisterschaften in den Vierern? Zwei Ruderer waren gar beim fernöstlichen Olympia vom Winde verweht worden, aber gewannen dann doch Bronze – darunter der Karlsruher Michael Schwan. Nun ging’s um die zweite WM überhaupt. Weitermachen, Dabeisein, Mitrudern – dies alleine zählte: Vision und Abenteuer aktivem Lebens. Formtiefs, Rückschläge, Konflikte mit Kameraden und Funktionären, Kämpfe mit sich selber. Vor allem Schwierigkeiten mit den Reisen und Terminen: Die Ruderer kamen aus Norden, Süden und Berlin. Mit mancherlei Mühen meisterten wir – die Athleten und die Trainer – alle Stürme um die Crew, glätteten die Wogen und Erregungen, lösten anscheinend unlösbare Aufgaben der Koordination und Motivation. Schwierigkeiten, Schwierigkeiten, renngemeinschaftliche Sonderfragen, verbands- oder vereinsbedingte Eitelkeiten. Und dennoch: ein Gemeinschaftswerk von Mannschaft und drei Trainern (Adam, Schilling, Lenk) entstand, Erfüllung hochfliegender, vom Verbande noch skeptisch 2) betrachteter Hoffnung, als die Mannschaft sich für die Weltmeisterschaftsregatta qualifizierte. Nun durften wir vom Endlauf träumen – wohl noch kaum vom Sieg. – Zuvor noch Höhentraining fast unter Himalayabedingungen auf dem Silvrettasee in über 2000 m Höhe – ein Vorausexperiment aktiver Höhenanpassung für Mexikos Olympia.

Und nun im Rennen, dem großen Finale! Bei 500 m führt knapp der erfahrene Achter aus Ostdeutschland. Ab 600 – 700 Meter stiller Spurt: Zehn besonders scharfe Schläge erwidern den Zwischenspurt. “Hart bleiben!” Abspringen vom Stemmbrett, verbissen ziehen, hart durchtreten und kompromisslosen Endzug!
Anriss, Zug und – Endzug, Anriss, Zug und – Endzug. “Achten auf den Einsatz!” Anriss, Zug und – Endzug. “Halbe – dreiviertel Länge!” – Jetzt Führung vor Sowjetunion! “Tausend Meter!” “Hart bleiben!” Nochmals stiller Zwischenspurt – anderthalb Längen: Abspringen, treten, ziehen, Widerstand; Anriss, Beindruck – diesen Schlag und noch diesen, diesen auch und diesen! Noch 500 Meter – die letzten! Muskeln und Sehnen schmerzen im Zug. Treten gegen wachsenden Widerstand. Luft, Keuchen, Arme, Beine, klobige Hindernisse. Blick aus dem Boot. “Die Russen kommen”, kommen auf! Nur noch eine Länge. “Die letzten Reserven!” Endspurt. “Noch 15!” Der Bootskörper springt noch einmal an. Alles in diesen Schlag und wieder in diesen. Schwärze, Brausen, rauchige Kehle. Die Schwere scheint schier unerträglich. 14, 15 – durch! Fallen, Sinken, Luft, Dunkel, Lichtpunkte – Erschlaffen. “In Bewegung bleiben”, allmähliches Weiterpaddeln, Schnappen, Keuchen. Dann taucht die Umwelt auf, die braunen Boote, die bunten Trikots, die brausende Tribüne! Geschafft! 5:56,28 m! 2 œ Sekunden Vorsprung vor dem Sowjetachter! Dies war der Weltmeisterschaftssieg des ersten sog. “Deutschlandachters.

1) Ich widme den Vortrag dem Gedenken des Bugmannes des WM-Achters von 1966, Dipl. Ing. Peter Kuhn, der allzu früh einem tückischen Leiden erlag.

2) “Von 20 Achtern aus fünf Kontinenten hatten sich schlussendlich sechs herauskristallisiert, wobei manch Favorit vorzeitig auf der Strecke geblieben war. In diesen Feldern war die viel gepriesene und zugleich manches mal geschmähte Mannschaft mit der hochtrabenden und erst noch nach Bestätigung heischenden Bezeichnung “Deutschland-Achter” während der Vor-, Hoffnungs- und Zwischenläufe stets zeitschnellstes Boot geblieben. Trotzdem blieb bis wenige Meter vor Passieren der Ziellinie im letzten Rennen der zweiten Ruderweltmeisterschaften die bange Frage offen: Lässt sich tatsächlich Karl Adams und Hans Lenks Rezept “Man nehme…” und “führe unter bestimmten Voraussetzungen zusammen” realisieren?
Wo wir es jetzt wissen: Es ließ sich. Es ließ den ewigen Zweiten – Sowjetunion – ein weiteres Mal diesen wenig dankbaren Platz einnehmen, obwohl er so erfolgversprechend die Saison angegangen war” (Rudersport 1966, 581).