100 Jahre Dr. Walter Wülfing – Die zwei größten Tage des “Dr. Hussa-Hussa”

Ein Elite-Vierer: v.l. Die Trainer Karl Wiepke und Karl Adam, Dr. Walter Wülfing und Dr. Alfred Block.

Er war kein Kind von Traurigkeit; er war ein Freund von Fröhlichkeit, Feiern und Festen – auch vielfach im Fernsehen. Fast galt er als Fastnachtsprinz der Mainzer Fastnacht, so regelmäßig saß Dr. Walter Wülfing als Aufsichtsratsvorsitzender des ZDF lachend, scherzend fast nächtlich, allfastnächtlich beim “Zweiten” “in der ersten Reihe”. Er wusste dies zu genießen und auch manchmal selbst mit kleiner Nachhilfe oder Eigenaktivität zu fördern. Er feierte sichtlich gern – und vor allem mit seinen ihn wirklich verehrenden Ruderathleten, die ihn zum Teil ein bis zwei Köpfe überragten. Sie nannten ihn “Doktorchen” oder “Walterchen” oder nach dem zweitliebsten seiner berühmten Trinksprüche, dem Favoriten zu später Stunde, “Dr. Hussa-Hussa!”. Der liebste Ruf war ihm natürlich der offiziell-offiziöse Triumphruf des Deutschen Ruderverbandes “Hipp-Hipp Hurra!” nach einem großen internationalen Regattasieg – und solche Erfolge fielen ihm viele zu, zumal er sie auch konsequent und zielstrebig förderte und die Initiativen unterstützte. Er führte durch seine freundschaftliche und freundliche Art wie durch seine liberale Politik des Gewährenlassens und der Unterstützung von Mannschaftskombinationen und Renngemeinschaften die westdeutschen Ruderer erstmals wieder zur Weltgeltung nach dem Zweiten Weltkrieg – zumal zu den ersten überragenden Gesamterfolgen in Mâcon 1959 (Europameisterschaft) und bei der Olympiaregatta von Rom (1960):

Diese beiden Meisterschaftstage, die er gern als die größten Erfolge des deutschen Rudersports lobte, wurden von einem überragenden und von einem überlegenen Achtersieg gekrönt. Obwohl sich Wülfing über alle internationalen Rudererfolge außerordentlich freute und dies auch persönlich – insbesondere in seiner bekannt freundschaftlichen Beziehung zu allen Ruderern aller Bootsgattungen – ausdrücken konnte, bekannte er doch: “Der Achter ist mein ein und alles!” Nahm er die Einsicht des Schriftstellers und Dichters Rudolf Hagelstange vorweg, der das römische Achterrennen am Albanersee unter dem Motto “Der Achter das ist die Mannschaft an sich” mit den unvergesslichen, geradezu hymnischen Worten schilderte?:

“Und jetzt waren sie auch schon nähergekommen, die gleitenden Agraffen, waren belebt, lebendig, glichen Tieren mit Flimmerhärchen. Und nun wurden sie dem immer sicherer lotenden Auge kenntlich als jene einzigartige Zweiheit, die dennoch – wie Nenner und Zähler einer gebrochenen Zahl – Einheit ist: das leichte, lange überschlanke Fahrzeug, das die entfesselte und zugleich rationalisierteste Kraft von acht herkulischen und zugleich sensiblen Menschen in harmonischem Rhythmus vorwärts trägt. Sinnbild der Mannschaft, wie kaum eine andere Gruppierung im Spiel, im Zusammenspiel der Kräfte Sinnbild sein kann. Kein Oben, kein Unten. Kein Egoismus, keine Alleingänge, keine Star-Allüre, kein Abweichen. Kein Scheinhandeln, keine Rivalität. Bündnis, Disziplin, Gleichklang, Verantwortung, Askese, Opfersinn, Freundschaft. Der Achter, das ist die Mannschaft an sich. Und ein siegreicher Achter ist ein Triumph dieses Mannschaftsgeistes.” 1) Der Achter, die Mannschaft an sich!

Der Weg nach Rom war, schien es, konsequent geplant, hing aber dennoch von Zufällen und günstigen Umständen ab, die dem bundesdeutschen Ruderverband und ihrem Präsidenten als eine Art Geschenk in den Schoß gerieten, das er, der Präsident, aber geschickt und aufmerksam anzunehmen und zu unterstützen, ja, dann konsequent zu fördern wusste.

Die Renngemeinschaft Ratzeburg-Kiel kam eher zufällig zustande – durch die Studenten selbst, durch das zum Ersatz dienende Einsteigen zweier Ratzeburger Mitstudenten, die eigentlich Doppelzweier fuhren, die aufgrund einer Unpässlichkeit eines Ruderers in dem sehr guten Kieler Vierer ohne Steuermann bei der Frühjahrsregatta zu Ostende 1958 mitruderten. Man siegte, maß dem keinerlei besondere Bedeutung bei: Erst als der Gegner, der Zweite des Rennens, acht Tage später den amtierenden Europameister schlug, glaubte man: “Vielleicht sind wir gut”; und so wurde der künftig ungeschlagene und spätere Europameister-Vierer ohne Steuermann 1958 gegründet, der später den Grundstock des großen Achters darstellte. – Der zweite Entstehungszweig war ebenfalls eher zufällig: Sieben (!) trainingsaktive Ratzeburger Studenten und Schülerruderer setzten sich spaßeshalber 1958 auf der Berliner Regatta in einen Leih-Achter und verloren das Rennen zusammen mit einem Examenskandidaten, der nicht im richtigen Training war, – man braucht ja acht Ruderer für den Achter! – gegen einen Spitzenachter nur mit einer Sekunde Rückstand. Man lieh sich einige Wochen später wieder einen Achter und fuhr auf der Regatta in Mainz überlegen vor dem hochgejubelten Spitzenboot der Regattaszene vorweg (Presse: “/Wo liegt Ratzeburg?/ Drei Längen vor Wiesbaden!”), gewann mit Leichtgewichtsschülern die deutsche Meisterschaft in der schweren Klasse und verlor nur auf der Europameisterschaft (nach in Bestzeit gewonnenem Vorlauf) im Gegenwind gegen üblich schwergewichtige Ruderrecken aus Italien. Erst hier nun setzte die definitive Achterplanung des genialen Rudertrainers ein, des liebevoll so titulierten “Ruderprofessors”, des Mathematik- und Physiklehrers aus Ratzeburg Karl Adam, zusammen mit dem Kieler Trainer Karl Wiepcke und natürlich dem ihn freundlich unterstützenden Dr. Wülfing. Um den Europameister-Vierer o. Stm. herum wurde der neue, schwerere Achter bereits bis auf eine Position fürs nächste Jahr geplant.

Parallel hatte sich bereits die “tiefe Freundschaft” mit Karl Adam, von der Wülfing schreibt (s. in diesem Heft þ) entwickelt. Sie vertrauten und achteten einander und waren trotz sehr unterschiedlicher Mentalitäten auch persönlich sehr freundschaftlich verbunden, nicht nur im Hinblick auf die gemeinsamen Erfolge. Wülfing schrieb: “Wir hatten verschiedene Lebensauffassungen. Karl Adam war in der Regel still und ernst. Ich habe mich immer mehr zur Fröhlichkeit und Geselligkeit bekannt, aber: /Gegensätze ziehen sich an/.”

Es wurde eine Erfolgsstory sondergleichen, die zu den zwei größten Rudertriumphen der alten Bundesrepublik nach dem letzten Krieg führen sollte.

Der oben dichterisch geschilderte erste deutsche Olympiasieg im Achter überhaupt gegen die ungebrochene US-amerikanische Phalanx der Olympiasiege ist bekannt, wurde auch von Wülfing als Krönung seiner Präsidentschaft gefeiert; denn nochmals: “Der Achter ist mein ein und alles!”: “Das war der größte und schönste Tag des deutschen Rudersports! Das höchste Ziel, endlich einmal den Achter zu gewinnen, ist erreicht. Wir sind alle schrecklich glücklich.” (Dabei sind die zwei weiteren Gold- und andere Medaillen bei dieser Olympiaregatta natürlich nicht zu vergessen…, die diesen überragenden Erfolg abrundeten.)

Rein sportlich gesehen war jedoch wohl der Europameisterschaftssieg des Achters 1959 im französischen Mâcon (Burgund) noch großartiger. Nie wurde zuvor wurde ein und wird wohl mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft kein internationales Meisterschaftsachterrennen mit praktisch zehn Sekunden Abstand (rund fünf Längen Vorsprung) entschieden. Zugleich war es die 25. Europameisterschaft für deutsche Ruderer. (Dies alles sollte auch deswegen betont und in der Erinnerung behalten werden, weil in dem letztjährigen Film (über die deutsche Rudertradition zum 50. Nachkriegs-Jubiläum des DRV und des einstigen DRSV der DDR) dieser überlegenste internationale Achtersieg aller Zeiten einfach unter den Tisch fiel!) Wülfing jedenfalls war sich der großen Stunde voll bewusst, auch der Gunst von Stunde und Geschenk sowie seiner eigenen glücklichen und gutwilligen Förderhand. Der kongenialen Beschreibung dieses Rennen durch den ehemaligen Meisterruderer Seppl Schneider im “Mannheimer Morgen” und der Amacitia-Vereinszeitschrift hatte er herzlich zugestimmt:

Ruderkamerad Schneider befand sich “unmittelbar neben der Bahn des Ratzeburger Achters” und schreibt: “Den wollte ich mir aufs Korn nehmen. Aber auf einmal war ich von etwas so gebannt, dass ich gar nicht den ganzen Achter betrachtete, sondern nur einen einzelnen Mann: […] Den hatte ich etwa 15 Schlag lang im Auge, das heißt, auch wieder nicht ihn, sondern sein Blatt, seine Wasserarbeit. Ich war hingerissen. Ich bilde mir ein, früher hin und wieder mit letzter Kraft am Riemen gehangen zu sein und manchmal förmlich mit Untergriff gerudert zu haben, wenn die Kerle da neben dran nicht nachgeben wollten. Aber was dieser Mann da vor meinen Augen tat, fünf, zehn, fünfzehn Schläge lang, das war so, als würde gar nichts anderes von ihm verlangt, als sich über 15 Schlag restlos auszugeben. Ich beobachtete ihn noch lange, und ich glaube, dass er so über die ganze Strecke gezogen hat und dass so die ganze Mannschaft gewütet hat – 2000 Meter lang. Solch ein Achter muss ja gewinnen.

Aber gegen (Europameister) Italien? Der Abstand der Führung Deutschlands, den der Lautsprecher von Marke zu Marke bekannt gab, war ja schon imponierend, halbe Länge, eine Länge, zwei Längen; aber mehr noch beeindruckte das Tempo, diese tolle Schlagzahl von 40, 42, 44 Schlägen, die das Erstaunen der Tribüne auslöste, erst recht noch als der Achter klar ins Blickfeld kam, diese hochtourig arbeitende Maschine, ganz allein auf weiter Flur, Längen dahinter, fast als Rennen für sich, die Elite Europas mit Russland, Italien und der Tschechoslowakei im erbitterten Kampf auf gleicher Höhe um den zweiten Platz. Aber sie interessierten zunächst nicht. Man sah nur Deutschland. Von 1700 Meter an ging es wie ein Ruck durchs Boot, der Endspurt. Ich weiß nicht, was wir schrien, ich weiß nur, dass alles schrie und tobte und sich gegenseitig packte. Das war ja ein Sieg, wie er noch niemals in einem Großen Achter da war, und das war ja ein Sieg auf einer Europameisterschaft, und der Sieger hieß Deutschland! Lange, lange, als das deutsche Boot schon durchs Ziel war und sich zum Drehen anschickte, kam das Feld der Verfolger an, drei Boote in einem dichten Haufen, die Tschechen, die Russen, die Italiener, und weit abgeschlagen der polnische Achter, der doch auch ein Meisterachter seines Landes war, das gar nicht schlecht rudert; aber zwischen ihm und dem deutschen Boot lagen vielleicht sieben Längen, und die Polen brachen im Ziel zusammen und purzelten durcheinander wie die Fliegen, und sie hatten doch demnach auch ihr Letztes gegeben. Dies also war der große Tag des Ratzeburg-Kieler Achters.”

Der größte Tag – trotz späterem Olympiasieg!

In der Tat war es 1959 in Mâcon, wo nach der Geburt des “Großen Achters” mit dem international überragendsten Rennen aller Zeiten seine Achterruderer die besonderen Qualitäten ihres “Dr. Hussa-Hussa” zum ersten Mal kennen lernten – Fähigkeiten, wie sie in vielen späteren Feiern mit diesem und den nachfolgenden international erfolgreichen Medaillenachtern immer wieder erprobt wurden. Seine Ruderer verehrten und liebten ihren Doktor und feierten gern mit ihm. Er liebte seine Aktiven und freute sich mit ihnen – oft geradezu kindlich, immer aber außerordentlich verständnisvoll. Kaum je spielte er ihnen gegenüber den “Funktionär” oder juristisch erprobten Verbandsgewaltigen hervor. Man hatte stets den Eindruck, dass er mit seinen Ruderern fühlte, manchmal zitterte und sich mit ihnen jedenfalls identifizierte – und am liebsten gemeinsam über Erfolge freute. Es war eine wechselseitige Verehrung, ja, “Liebe” zur fröhlichen Jugendlichkeit, zur überschäumenden Vitalität und zur sportlichen Freundschaft und Kameradschaft. Mâcon war der erste große Höhepunkt – und viele andere mit dieser und mit anderen Mannschaften – sollten folgen, zumal nach dem Olympiasieg in Rom.

Dr. Walter feierte gern, trank aber keine scharfen Sachen und war auch nicht sehr trinkfest, wie er selber wusste und die Ruderer bald feststellten. (Zumeist war er am nächsten Morgen auch schon wieder in seiner Amtskanzlei und lebte während der Woche sehr diszipliniert, ja, nüchtern.) Diese seine Schwäche, die ich sogar verstärkt vielleicht von ihm geerbt habe, nutzten seine “lieben” Ruderer einmal bei einer Siegesfeier im nördlichsten unserer Bundesländer dazu, ihm mit einem “Lausbubenstreich” etwas übel mitzuspielen. Ihm, der eigentlich nur leichtes Bier trank, mischten sie geschmacksarmes Starkes in die Gläser, so dass man ihn zum Hotelzimmer stützen und geleiten musste. Er war am nächsten Morgen wie üblich entschwunden – blieb jedoch auch weiterhin der Freund und gute Kamerad aller Aktiven.

Das Lied vom guten Kameraden kam uns in den Sinn, als wir lange Jahre später an seinem Sarg Ehrenwache hielten, “sein” Mâcon- und Romachter: Wir hatten einen guten “Kameraden: einen bessern findst du nicht…”!

von Hans Lenk

1) Hagelstange, R.: Römisches Olympia. München 1961, 185.