In Vorbereitung des Abends mit Ruderkmeraden*innen, Freunden und Wegbegleitern, werden hier vorab die Texte der Vortragenden veröffentlicht:
Watermanship oder Der Lauf des Bootes:
Vermitteln im bewegungspädagogisches Experiment.
Resümierende methodische Betrachtung
V. Lippens, Universität Hamburg
Für Walter Schröder (1932 – 2022)
1. Vorbemerkung
Die aktuelle Bewegungslehre (vgl. Birkelbauer, 2006; Hossner & Künzell, 2022) geht davon aus, dass menschliches Bewegen als zielgerichtetes, problemlösendes Tun[1] oder als Exploration des Wahrnehmungs-Bewegungs-Raums (Newell, 1986, 1996) mittels geeigneter Suchstrategien (Newell et al., 1989) zu verstehen ist. In Lern- und Optimierungsprozessen verändert sich die Dynamik der Mensch-Umwelt-Interaktionen ständig und muss insbesondere unter den Aspekten von “Situationsdeutungen und Sinnstiftungen” (Leist, 2001, 55) der im Vermittlungsprozess involvierten, dialogisch Beteiligten, Sportler und Vermittler, berücksichtigt werden. Unter der Perspektive der Selbstorganisation-Theorien ließen sich derartige quasi-automatisierte oder routinisierte Bewegungshandlungen in psychologischen Endo-Systemen „affordanzgesteuert“ implementieren (Tschacher, 1997, vgl. a. Cisek, 2007).Hier soll nun vorrangig das Sich-Bewegen-Lernen als Produktion und Kontrolle der Ruderbewegung diskutiert werden. Ist der optimale Lauf des Bootes (vgl. Lippens, 1992a, 101 ff) die Folge eines vorprogrammierten Befehls, der nach ausreichender Übung aus dem Gedächtnis nur abgerufen werden muss? Oder stellt sich das bewusste Erleben eines wahrzunehmenden Wasser-, Blatt- oder Bootsgefühls immer dann ein, wenn das Bewegen im Ruderboot den eigenen Ansprüchen entsprechend gelingt und eine Passung zwischen den Auf- und Anforderungen der Bewegungsumgebung (affordances; Gibson, 1977) und den eigenen Bewegungsmöglichkeiten (effectivities resp. action capabilities; vgl. a. Michaels, 2003 resp. Pepping & Li, 2000) gefunden ist? Wer kennt nicht noch aus dem eigenen Lernprozess die entsprechenden, spezifischen Zwänge von Gerät (schmaler Einer!)
[1] “The process of practice toward the achievement of new motor habits essentially consists in the gradual success of a search for optimal motor solutions to the appropriate problems.” (Bernstein, 1967, 362).
und Umgebung (Gewässer, Wetter), trotz derer das Bewegen im und mit dem Ruderboot der Aufgabe angemessen (‚von A nach B zu kommen‘) zu realisieren ist?
Foto 1: Sich-Bewegen im Ruderboot: Zielgerichtetes, problemlösendes Tun
Allerdings ist damit nicht beschrieben, wie Rudern grundsätzlich erlernt wird. Wie entsteht ein Ruder-Schema[1] (vgl. a. Lippens 1997b), das den ‘Lauf des Bootes’ überhaupt produzieren und kontinuierlich kontrollieren kann? Entsprechen die Überlegungen von Steve Fairbairn (1951) zum watermanship[2] den Hinweisen der Ruderer[3], wenn sie über den „optimalen Lauf des Boots“ in ihren Subjektiven Theorien[4]berichten? Der Verweis auf theoretische Modellierungen zur Bewegungsproduktion könnte dann methodische Vorgehensweisen in Lern- und Optimierungsprozessen verschieden begründen (vgl. a. Künzell, 2015, 2022). Übergeordnete Erfahrungen in Form eines Bewegungsgefühls für die gelungene Bewegungsausführung als Ausdruck des watermanships werden durch Trainer und Lehrer nicht linear und monokausal verursacht, sondern müssen sich aus der jeweiligen Situation als Lerngelegenheit ergeben. Vermittler können im sportpädagogischen Experiment (vgl. a. Lippens, 2001) lediglich günstige Bedingungen schaffen, die eine optimale Lösung der Bewegungsaufgabe ermöglichen (vgl. a. van der Kamp et al., 2019). „Die optimale Bewegungsform kann nur durch systematisches Ausprobieren gefunden werden, man kann sie nicht durch Bewegungsanalyse und daraus abgeleitete kinematische Vorschriften erzwingen“
[1] Der Begriff ‚Ruder-Schema‘ soll hier eher umgangssprachlich als ‚wesentliches Merkmal‘ und nicht mehr im Sinne der Schema-Theorie (Schmidt, 1975) verstanden werden (vgl. a van Rossum, 1990).
[2] Fairbairn versteht unter watermanship die kunstvolle Expertise, sich mit dem Boot auf dem Wasser geschickt und gekonnt fortzubewegen (vgl.a. Handley, 1922).
[3] Hier sei als Beispiel auf die Berichte der Ruderer Hans Lenk (1985: Konzept Meditative Dimension bzw. Grenzerfahrung) und Michael Buchheit (2021: Konstrukt Fliegen) verwiesen.
[4] Subjektive Theorien werden analog zu objektiven Theorien verstanden. Sie erfassen die gespeicherten, handlungsleitenden Gedanken und Gefühle aus der Innensichts-Perspektive der Handelnden (vgl. a. Lippens, 1992a, 7f).
(Adam, 1962, 25). Geschickte Koordinations-Leistungen als Indikator für angemessene Handlungskompetenz (Nitsch, 2004) verweisen dann auf Passungen zwischen mehr intern orientierten (Person-Umgebung; Person-Aufgabe) und mehr extern orientierten (Aufgabe-Umgebung) Bedingungsfaktoren des Bewegens. Derartige Überlegungen sind unter Bezug auf Newell (1984, 1996) auch in neueren Arbeiten zur ökologischen Analyse von Aufgaben (Davis & Broadhead, 2007) oder zur Dynamik des Fertigkeitserwerbs zu finden (Davids et al., 2005, 2008). Hier soll nun geprüft werden, welche Anregungspotentiale die kybernetische Lehrweise nach Walter Schröder (1962, 1964, 1978) im sportpädagogischen Vermittlungsexperiment bietet.
Sind Trainer und Lehrer in der Lage, sich mit ihren Sportlern über diese Lerngelegenheiten zu verständigen, werden die Erfahrungen der Lerner nachhaltig ‚auf den Begriff gebracht’ und erhalten so eine bildungstheoretische Dimension. Wir vermuten, dass das Forschungsprogramm der Subjektiven Theorien dazu besonders geeignet ist, diesen (Re-)Konstruktionsprozess abzubilden.
2. Kybernetische Lehrweise
Erfahrende Ruderer zeichnen sich nach Steve Fairbairn durch ein watermanship aus. Unterhält man sich mit diesen Ruderern als Experten für ihre Bewegungsproduktion dann fällt früher oder später der Begriff ‚Lauf des Bootes’. Diese Beschreibungen lassen sich unter verschiedensten theoretischen Modellierungen einordnen und diskutieren (Lippens, 1995b). Den Weg vom Anfänger zum Könner haben wir am Fachbereich Sportwissenschaft der Universität Hamburg im Forschungsbereich „Empirisch-pädagogische Bewegungs-Forschung“ zusammen mit Walter Schröder zwischen 1986-1996 in unterschiedlichen Forschungsprojekten erkundet.
Das grundsätzliche Erkenntnisinteresse bestand in der Frage nach dem „idealen Ruderlehrer“ (Körndle & Lippens, 1983). Nach einer anfänglichen, notwendigen Methodenentwicklung (1986-88) haben wir in einer ersten Phase (1990-1992) untersucht, wie denn Rudern-Lernen aus einer Innensicht-Perspektive funktioniert (vgl. a. Kaminski, 1972). In einer weiteren Phase (1993) haben wir darauf aufbauend, Interventionseffekte des Vermittlers exploriert und experimentell überprüft (Hänyes et al., 1994, 1995). Über die Ergebnisse haben wir u.a. auf den ersten Konstanzer Rudersymposien (1993 – 99) ausführlich berichtet.
Aus einer gewissen Distanz soll das daraus abgeleitete lehrmethodische Vorgehen vor dem Hintergrund neuerer theoretischer Modellierungen und empirischer Befunden der Bewegungswissenschaft reflektiert werden. Die sportwissenschaftliche Einordnung wird dabei immer von einer sportpraktischen Evaluierung begleitet, indem die theoretischen Einsichten je nach Möglichkeit, in Lehrveranstaltungen mit Sportstudierenden auf ihre Anwendbarkeit geprüft werden.
Die Suche nach dem „idealen Ruderlehrer“ führt die Überlegungen von Karl Adam (1962) und Walter Schröder (1962, 1964) fort, wie denn die Lernleistung empirisch evaluiert werden kann. Schröders Interesse (1977, 34), die kybernetische Lehrmaschine Skiff mit einer biomechanischen Rückmeldeapparatur zu erweitern, war eine grundlegende Idee, die wir dann unter einer handlungsregulationstheoretischer Perspektive als Objektivierung der Außensicht in der komplexen Bewegungshandlungsanalyse aufgenommen haben (Körndle & Lippens, 1983). Der Vergleich von am Stemmbrett eingeleiteten Gesamtkräften mit den vortriebswirksamen Ruderkräften ermöglicht Aussagen über die Effektivität der ausgeführten Ruderbewegung (Körndle & Lippens, 1983) (vgl. a. Abb. 1)[1].
Abb. 1: Balance-Kraft (A) am Stemmbrett (y-Richtung) zu Beginn (links) und am Ende (rechts) des Lernprozesses; Stemmbrettkraft in x- (B) bzw. z-Richtung (C)
(Lippens, 1992a, 132, Abb. 6.4)Aus einer historischen Perspektive soll die kybernetische Lehrweise von Walter Schröder kritisch zusammengefasst und insbesondere auf neuere Ansätze zur Dynamik des Fertigkeitserwerbs bezogen werden. Dabei ist überraschend, dass
[1] Aufgrund fehlender Ressourcen konnten wir keine quantitativen Analysen berechnen (z.B. Quotient: Balance-Kraft/Zugkraft).
keine wesentlichen Innovationen in der rudermethodischen Fachliteratur der letzten Jahrzehnte aufzufinden waren (z.B. Fritsch,1988, 41-69).
Wenn der Schwerpunkt der Überlegungen von W. Schröder (1962, 1964, 1978) auf einer methodischen Strukturierung einer „altersgemäßen Lehrweise“ liegt, dann lassen sich zumindest drei prinzipielle, theoretische Grundlegungen[1] ausmachen, die vor dem Entwurf einer methodischen Weiterentwicklung zu bilanzieren sind.
1. Das unter Bezug auf L. Diem (1962) von W. Schröder bemühte Konzept des Geschicklichkeitsalters wurde inzwischen kritisch hinterfragt (u.a. Baur, 1987) und anhand empirischer Daten mehrfach in Frage gestellt (Willimczik et al., 1999; Joch et al., 1993; Wollny, 2002). Die konzeptionelle Konsistenz kann heutzutage besser mit der theoretischen Rahmenkonzeption der Lebenspanne nach Baltes (1979) erreicht werden. Statt einer biologistischen Modellierung der menschlichen Entwicklung analog zu der Prägung der Lorenzschen Gänse herrscht in der Biologie, Psychologie und Soziologie Konsens darüber, sich auf komplexere dynamisch-interaktionistische Modellierungen der motorischen Entwicklung zu stützen (vgl. a. Willimczik & Conzelmann, 1999; Conzelmann, 1999, 2001; Thelen & Smith, 1994). 2. Der Versuch von W. Schröder eine methodische Strukturierung mit der Lernziel-Orientierung nach Mager (1965)[2] zu vollziehen, wird von ihm selbst nicht konsequent durchgehalten. Es fehlt die entsprechende Operationalisierung des Lernziels für den Einsatz des Rollsitzes[3]. Darüber hinaus besteht inzwischen in der Erziehungswissenschaft[4] Einigkeit, dass die von Mager konzeptionierten Lern-Ziele vermutlich eher als Lehr-Ziele zu bezeichnen sind. Damit wird dann die Rückführung der Lehr-Ziel-Hierarchisierung auf das methodische, „immer geltende Prinzip ‚vom Leichten zum Schweren’“ unter einer lernerorientierten Perspektive fragwürdig. Aus
[1] Der notwendige technologische Fortschritt im Bootsbau, der es W. Schröder in der Zusammenarbeit mit der Bootswerft Empacher möglich machte, einen geeigneten Kindereiner zu entwickeln, soll hier nur erwähnt werden (vgl. a. Feige, 1939, 10). Auf den wechselseitigen Zusammenhang von Geräte-, Technik- und Methodenentwicklung hat Schröder 1977 verwiesen.
[2] Auch wenn Schröder nicht explizit auf Mager verweist, ist diese Orientierung angesichts der damaligen Lernziel-Euphorie naheliegend und in der Ausführung seiner Systematisierung in den ruderspezifischen Lernzielen nachweisbar.
[3] Walter Schröder antwortete auf die Frage, warum er denn den Rollsitz-Einsatz nicht als Lehr/Lernziel operationalisiert habe, schmunzelnd: „Den Rollsitz setzt jeder geschickte Lerner von selbst ein. Das muss man ihm nicht sagen!“ „Von der Arbeit der Beine wird absichtlich nichts gesagt. Da aber jeder den Widerstand am Stemmbrett beim Beginn des Durchzuges spürt, setzen alle Jungen die Beinmuskulatur und den Rollsitz von selbst ein.“ (Schröder, 1964, 3)
[4] So spricht schon Schulz (1965, XIf) bei seinen Einwänden und Widerlegungen im Geleit zur deutschen Ausgabe von Mager von Lehrzielen!
welcher Perspektive wird denn bestimmt, was leicht und was schwer ist (vgl. a. Scherer 1999)?
3. Der Bezug auf die damals aktuelle, kybernetische orientierte Bewegungslehre (Adam, 1962; Schnabel, 1968) sollte heute zumindest im Zusammenhang der Problematik informationsverarbeitender Ansätzediskutiert werden (vgl. Hossner & Künzell, 2003). Bewegungs-Produktion kann neben einer top-down-Modellierung mit intern repräsentierten Plänen auch als bottom-up-Modellierungen in Form von selbstorganisierten Systemen mit lediglich mechanischen Wechselwirkungen gedacht und empirisch evaluiert werden (Meijer & Roth, 1988). Hossner und Künzell (2022) verweisen als vermittelndes Konzept auf die Theorie interner Modelle, die u.a. den wiederbelebten Ideomotorik-Ansatz von Prinz (1985) und eine antizipative Verhaltensregulation nach Hoffmann (1993) einbeziehen (vgl. a. Scherer, 2001, 2015). Anhand empirischer Befunde modellieren Hossner und Künzell (2022, 133-142) eine Wahrnehmungs-Bewegungs-Kopplung (perception-action coupling; ebd., 180; vgl. a. Turvey, 1991) zunehmen differenzierter aus. Kerngedanke ist die Integration eines Kontroll-Gesetzes, das für die Bewegung notwendige Kriterien der Optimierung festschreibt, und eines Prädiktor-Systems, das aufgabenbezogene Kontrollkriterien in Form von erwartungsbezogenen Effekten ableitet (ebd., 179-206; vgl. a. Hossner et al., 2013, 254).
Es bleibt aber fraglich, ob menschliches Sich-Bewegen durch relativ triviale Systeme wie einfache Regelkreismodelle[1] in der kybernetischen Sichtweise allein ausreichend erklärt werden kann (vgl. a.Birkelbauer, 2006). Die Arbeitsgruppe von Kelso (1984) hat schon früh auf komplexere dynamischere Systeme hingewiesen, für die dann von Haken et al. (1985) unter dem Aspekt der Selbstorganisation mathematisch modelliert wurden. Über diese relativ einfachen, bimanuellen Fingerbewegungen und interindividuellen Beinpendel hinaus hat Vereijken rhythmisch schwingende Ganzkörperbewegungen auf dem Skisimulator untersucht (vgl. a. Vereijken & Whiting, 1990; Corbetta & Vereijken, 1999).Auch wenn es problematisch sein kann, Befunde aus der psychologischen Motorikforschung des Labors auf das Bewegungslernen im Feld zu übertragen (vgl.
[1] Auf die Komplexität der ‚Koordination‘ hat schon Dewey (1896) in seiner Kritik am damals gängigen Reflexbogen-Konzept hingewiesen: „… that the reflex arc idea, … is defective in that it assumes sensory stimulus and motor response as distinct psychical existences, while in reality they are always inside a coordination and have their significance purely from the part played in maintaining or reconstituting the coordination;..“ (S. 360)
Wulf & Shea, 2002), so sollten diese Anregungen zum Überdenken bisheriger Modellierungen aufgenommen und zum Generieren von innovativen Hypothesen verwandt werden.
3. Such-Strategien im Wahrnehmungs-Bewegungs-Raum
Newell (1996) thematisiert die Veränderungen von motorischen Fertigkeiten im Aneignungsprozess. Die Aneignung von Fertigkeiten versteht die Arbeitsgruppe weniger als Neulernen denn als Anpassung der individuellen Bewegungsmöglichkeiten (Pacheco, Lafe & Newell, 2019; vgl. a. Hossner & Künzell, 2022, 264: Anmerkungen zum „de novo Lernen“)[1]. Dabei geht Newell zuerst auf die unterschiedlichen Anforderungen von Person, Aufgabe und Umgebung als Voraussetzung der Bewegungsausführung (vgl. a. Nitsch & Hackfort, 1981; Nitsch, 1982) (Abb. 2), dann auf den Wahrnehmungs-Bewegungs-Raum beim Bewegen und schließlich auf den Koordinations-Modus der letztlich resultierenden Bewegung ein (Abb. 3).
Abb. 2: Situationsspezifische Bewegungs-Kompetenz unter den Bedingungen (constraints) von Person, Aufgabe und Umgebung: links modelliert von Newell (1996); rechts modelliert von Balagué et al., (2019) (Balagué et al., 2019, 3; Fig. 1)Newell (1996) unterscheidet drei Klassen unterschiedlicher Bedingungen (constraints): der Person (organism), der Umgebung (environment) und der Aufgabe (task) (vgl. a. Nitsch, 1985). Balagué et al. (2019) differenzieren den Einfluss der
[1] „Skill acquisition is, in our view, however, less an ‚acquisition‘ and more a ‚transformation‘ or ‚change‘ of the individual abilities to act in searching within the environment in pursuit of a task goal.“ (Pacheco et al., 2019, 1)
Bedingungen aus: Die Zwänge der Umgebung und die der Person bestimmen letztlich die Aufgabe (vgl. a. Dewey, 1896)[1].
Der als Ergebnis resultierende Koordinations-Modus wird über die Verschränkung von Information und Bewegung im aufgrund der Zwänge entstehenden Suchraum (perceptual-motor workspace) bestimmt:
- Die jeweiligen konkreten Anforderungen entstehen im Spannungsfeld von Person (z.B. Landbewohner vs. Bootsbenutzer (waterman)), Aufgabe (z.B. Wasserarbeit vs. Körperarbeit) und Umgebungsbedingungen(z.B. Ruderbecken vs. schmaler Einer, Skiff vs. Mannschaftsboot) (Abb. 2)[2].
Letztlich bestimmen die individuellen Bewegungserfahrungen die Voraussetzungen der Bewegungs-Produktion (vgl. a. Boschker et al., 2010). So konstituiert sich der aktuelle Wahrnehmungs-Bewegungs-Raum als ein Suchraum, in dem die Lösung des jeweiligen Bewegungsproblems zu finden ist (vgl. a. Foto 2).
Foto 2: Bewegungsprobleme und SuchräumeEin Turner könnte das Boot u.U. als Möglichkeit wahrnehmen, Körperbewegungen zu vollziehen, die über die Skulls im Wasser Vortrieb erzeugen. Ein Schwimmer könnte beim Rudern die Möglichkeit sehen, die Wasserarbeit der Hände über die Skulls zu verlängern. Ein Ruderboot legt eben zu aller Erst nahe, eine derartige Bewegung zu realisieren, dass es sich von A nach B fortbewegt. Turnerische Bewegungen wie z.B. ein Kopfstand sind zwar grundsätzlich auch möglich, werden aber wohl erst dann als
[1] John Dewey skizziert die kontinuierliche Wiederherstellung der ‚Koordination‘ aufgrund der dynamische Wechselwirkungen durch die Einflussfaktoren von Umwelt und Person: „.. in either an external pressure of ‘environment,’ or else in an unaccountable spontaneous variation from within the ‘soul’ or the ‘organism.’ (S. 360).
[2] Die unterschiedlich modellierten Wechselwirkungen bzw. Schnittmengen sollen hier aufgrund der relativ stabilen Bedingungen der Bewegungsaufgabe beim Rudern nicht thematisiert werden.
Lösungen besonderer, zusätzlicher Geschicklichkeitsaufgaben erkannt, wenn das Boot aufgrund der schon gelösten Gleichgewichts-Probleme ‚bewegbar’ und die originäre Aufgabe der Fortbewegung für den Lerner langweilig geworden sein könnte.
- Innerhalb des Wahrnehmungs-Bewegungs-Raumes sind Wahrnehmen und Bewegen unmittelbar miteinander verschränkt (vgl. a. Abb. 3).
Dies korrespondiert mit der Gestaltkreis-Vorstellung von von Weizsäcker (1940), in der Wahrnehmen und Bewegen untrennbar verbunden sind, sich gegenseitig bedingen und im Verhältnis von Organismus und Umwelt eine dialektische Einheit bilden[1].
Abb. 3: Schematische Darstellung der situationsspezifischen Bewegungsausführung im Wahrnehmungs-Bewegungs-Raum (Newell, 1996, 417; Fig. 5)
Eine einfache Modellierung mit informationstechnologischen Rückkopplungskreisen würde der Komplexität dieses Geschehen nicht gerecht werden. Insbesondere ist es fraglich, ob es sinnvoll ist, die inter- oder transmodale Synthese des Wahrnehmungsvorganges auf einzelne Sinneskanäle zu reduzieren (vgl. a. Loenhoff, 2001, 109ff), die dann mehr oder weniger wichtig für die spezifische Bewegungsregulation sein sollen, ohne die sensorische Integration zu berücksichtigen (vgl. a. Ayres, 1984). Vielleicht hat diese Vorgehensweise (z.B. Schnabel, 1968) dazu geführt, dass die Geräuschwahrnehmung beim Rudern innerhalb der Bewegungslehre lediglich auf die Probleme der Mannschafts-Synchronisation bezogen werden konnte (vgl. a. Meinel & Schnabel, 1967; 69, 117, 121) und in der Rudermethodik gar keine Beachtung erhielt (z.B. Herberger, 1974; Körner & Schwanitz, 1985).
- Das Zusammenwirken der verschiedenen Anforderungen konstituiert den Suchraum und die individuell gefundene Lösung manifestiert sich abschließend im Koordinations-Modus der aktuellen Bewegungskompetenz.
Damit wird die vom Lerner verfügbare bzw. gewählte Suchstrategie abgebildet. Nach Newell (1996, 429) hat der Lerner hier ein doppeltes Kontroll-Problem. Einerseits ist es sinnvoll, den Suchraum auf dem Weg zur optimalen Lösung im lernrelevanten Grenzbereich (Nagel, 1996; vgl. a. Guadagnoli & Lee, 2004: optimal challenge point) möglichst genau zu erkunden, andererseits soll der Lerner die angestrebte Bewegungsausführung möglichst direkt ansteuern[2].
Der spezifische Koordinations-Modus zur Gleichgewichts-Leistung ließe sich im Aneignungsprozess der Ruderbewegung analog zum Jollensegeln (Piegelin et al., 1977; vgl. a. Abb. 4) auch für das Rudern im schmalen Einer auf den unterschiedlichen Lernsegmenten darstellen. Nach anfänglicher Fokusierung auf das statischen Körpergleichgewichts, das vorerst lediglich darin besteht, nicht aus dem Boot zu fallen (Abb. 4, links), sollte sich dann später ein dynamisches Systemgleichgewicht zeigen, in dem der Fokus der Aufmerksamkeit nicht mehr auf die Balance des eigenen Körpers begrenzt, sonder in das Gesamtgeschehen von Körper und Ruder sowie Boot integriert ist (Abb. 4, rechts).
Abb. 4: Interpretation des Gleichgewichthalten beim Jollen-Segeln (Piegelin et al., 1978, 37)
Die jeweilige Zentrierung der Aufmerksamkeit lässt sich gut durch die aktuelle Blickfixierung diagnostizieren: Zu Beginn wird das Heck fixiert, damit vor allem die visuellen Informationen über die Lage des Bootes achsensymmetrisch zum Vestibularorgan eintreffen. Wenn sich das Gleichgewicht dann zusätzlich über den Rollsitz taktil-kinästhetisch regulieren läßt, wird es möglich, die visuelle Aufmerksamkeit auf die Wasserlage des Blattes zu richten (vgl. a. Lippens, 1990).
Das Erhalten des Körpergleichgewichts zu Beginn kann durch das Abstützen mit dem Blättern auf dem Wasser unterstützt werden. In den Überlegungen zum Ruder-Schema (Lippens, 1997b, 1998) haben wir gezeigt, wie z.B. ein gewohntes Festhalte-Schema auf größeren Booten (z.B. Ozeandampfer) zu einem Abstütz-Schema in kleineren Booten (z.B. Skiff oder Kajak) umgewandelt werden muss. Erst wenn die Möglichkeiten des Rudergeräts bezüglich dieser Lösung vom Lerner entdeckt wurden, wird in der Folge ein gleichzeitiges Bewältigen der Balance- und Fortbewegungs-Probleme möglich. Für ein Frei-Wasser-Rudern schließlich muss dieses Abstütz-Schema wiederum in ein Balancier-Schema überführt werden, das die Regulation des Systemgleichgewichts mittels der Innenhebelführung und u.U. differenzierter Körperarbeit sichert.
Ein einfaches Ruder-Schema zur Fortbewegung eines Bootes ist vermutlich jedem bekannt, der schon einmal mit einem geeigneten Gerät ein flüssiges Medium bewegt hat. Nicht umsonst bezeichnen einige Wassersportler ihr Gerät auch als ‚Löffel’[3], da das Rühren als einfachste Form der ‚Wasserarbeit’ gesehen werden kann.
Die Anforderungen des Gerätes ‚Skiff‘ lassen allerdings nur bestimmte, geführte Bewegungen der Ruder aufgrund der Dollen- und Auslegeranordnung zu. Zusammen mit den Bewegungsmöglichkeiten des Rührens entsteht so nach einigen Versuchen zu Beginn des Aneignungsprozesses die relativ stabile Figur einer ‚Rundschlag’-Bewegung mit dem Skull (vgl. a. Abb. 5: oben).
Solange dies Rudern nur einseitig ausgeführt wird, kann auf der anderen Bootseite die notwendige Gleichgewichts-Leistung durch Abstützen mit dem zweiten Skull auf dem Wasser erfolgen[4]. Sobald die Ruderarbeit auf beiden Bootsseiten stattfinden soll, muss das einseitige Ruder-Schema des Rundschlages durch das zwischenzeitliche Abstützen beim Vorführen ergänzt werden. Damit erfolgt eine Erweiterung des Rühr-Schemas mit einem Streich-Schema beim Vorführen. Auch hier stellt sich nach einiger Übungszeit die wiederum stabile Figur des beidseitigen Ruderns ohne Rollsitz-Einsatz ein (vgl. a. Abb. 5: Mitte).
Abb. 5: Unterschiedliche Koordinations-Modi für die Produktion der Ruderbewegung im Aneignungsprozess (vertikaler Eintauchwinkel vs. horizontaler Arbeitswinkel) (Gerhard et al., 1998, 219)
Wenn so dann die Gleichgewichts-Probleme durch abgedrehte, aber geschickt aufgekantete Blattstellung beim Vorführen gelöst sind, dann wird nach und nach auch die Rollbahn zunehmend ausgenutzt, um die Wasserarbeit zu verlängern. Das Entstehen der daraus resultierenden, tragflügelartigen Figur der Ruderbewegung bedarf wiederum einiger Übungszeit (vgl. a. Abb. 5: unten).
Nach systemtheoretischen Überlegungen (vgl. a. Willimczik & Schildhauer, 1999, 92-107) sollte zwischen diesen Übergängen von Lernsegment zu Lernsegment oder von einfachen zu komplexeren Schemata der Bewegung eine erhöhte Variabilität der Bewegungsausführung derartige Phasenübergänge anzeigen. Da die o.a. biomechanischen Daten aber aus punktuellen Messungen des Aneignungsprozesses stammen (vgl. a. Gerhard et al., 1998, 1999), können wir diese hypothetischen Annahmen für das Erlernen der Ruderbewegung nicht empirisch evaluieren.
In zukünftigen Untersuchungen bliebe zu zeigen, wie geeignete Such-Strategien den Aneignungsprozess der Ruderbewegung strukturieren und welche Kontroll-Parameter den Suchprozess erleichtern können.
4. Affordanz-Extraktion
Affordanzen können in der direkten Wahrnehmung der Mensch-Umwelt-Interaktionen entnommen und müssen nicht mit kognitive Prozessen der Informationsverarbeitung erzeugt werden. So bestimmen sie das jeweilig adäquate Bewegungsverhalten. Dies löst auch das Problem der zu kontrollierenden Freiheitsgrade beim Bewegen. Die Bewegungswissenschaft geht je nach Modellierung von einer unterschiedlichen Anzahl biomechanischer Freiheitsgrade des menschlichen Körpers aus (Bernstein, 1967: N= 127; Tomovic & Bellmann, 1970: N= 792). Newell (1996, 395) schätzt die Zahl der Freiheitsgrade in den Gelenken auf weniger als 102, in den Muskeln auf größer als 103 und in den neuronalen Strukturen als ungefähr 1014. Es ist kaum vorstellbar, dass alle möglichen Freiheitsgrade zentral (top-down-Prozesse) in Form eines internen Modells kontrollierbar sind. Vielmehr müssen wir eine gewisse Eigenständigkeit der Peripherie (bottom-up-Prozesse) annehmen, die eine unabhängige Reduktion dieser Freiheitsgrade leisten kann (Bernstein, 1967). Dazu ist die menschliche Wahrnehmung in der Lage, externe Anforderungen der Umgebungsbedingungen und interne Systemeigenschaften aufeinander zu beziehen, ohne dazu explizite Verarbeitung der Informationen absolvieren und speichern zu müssen. Gibson (1977, 1979) hat hierzu das Konzept der Affordanzenentwickelt, das die An- und Aufforderungen der Umgebung[5] in Abhängigkeit von den Möglichkeiten des biologischen Systems direkt abgreifen kann (pick-up).
Vor diesem Konzept einer ökologischen Theorie der Wahrnehmung muss die einmal von Walter Schröder geäußerte Vermutung (1977, 35), dass bewegungsgeschickte Kinder auf einem einsamen Waldsee ebenso gut den Kopfstand im Skiff wie auch das Rudern selbst erlernen könnten, hinterfragt werden. So wie z.B. ein Stuhl in der Küche beim Essen zuerst einmal nur als ‚besitzbar’ und später möglicherweise im Zusammenhang einer anderen Aufgabe, wie z.B. des Staubwischens als ersteigbar, oder wechselnder Umgebungsbedingung, wie z.B. der Stuhlgymnastik als ‚beturnbar’, wahrgenommen wird, so legen vermutlich die Systemeigenschaften des Bootes vorerst eben doch nur ein Rudern als Wasserarbeit und nicht einen Kopfstand als Körperarbeit im Boot nahe. Als zusätzliche Gleichgewichts-Anforderung wäre zwar ein Kopfstand für z.B. Bewegungskünstler wie Turner grundsätzlich denkbar, aber vorrangig sollte der schmale Einer für den Landbewohner auf dem Weg zum Wassersportler als ‚ruderbar’ wahrgenommen werden.
Inzwischen liegen eine Reihe von empirischen Untersuchungen zur Extraktion von Affordanzen als Bewegungsanforderungen bzw. Bewegungsaufforderungen vor (Tab. 1). Zwei experimentelle Studien erscheinen mir im Zusammenhang des Bewegungslernens unter der Perspektive von Bewegungsan- und –aufforderungen besonders bemerkenswert:
Tab. 1: Affordanzen als Bewegungsan- und -aufforderung
besitzbar | Mark, 1987, Mark et al., 1990; Stoffregen et al., 1999 |
passierbar | Warren & Whang, 1987 |
greifbar | Savelsbergh et al., 1991 |
erreichbar | Bootsma et al., 1992 |
begehbar | Kinsella-Shaw et al., 1992 |
fangbar | Oudejans et al., 1996 |
ersteigbar | Warren, 1984; Mark, 1987; Konczak et al., 1992 |
1. In der ökologischen Motorikforschung hat die Affordanz-Extraktion, wann unterschiedliche Stufen ohne Strategiewechsel im bipedalen Gang noch ‚ersteigbar‘ sei, eine zunehmend komplexere Modellierung ergeben. Reichte anfangs für Warren (1984) eine einfache Korrelation der Augenhöhe und dem Verhältnis von wahrgenommener und tatsächlich ersteigbarer Höhe aus, so fand Mark (1987) einen Zusammenhang zwischen einem Beinlängen-Modell, in das die Daten von Oberschenkel- und Beingesamtlänge eingingen. Die Arbeitsgruppe um Konczak (1992) hat dann die Modellierung mit der Oberschenkelkraft und der Hüftbeweglichkeit wiederum erweitert und die unterschiedliche Anpassung des Modells mit Daten von jüngeren und älteren Erwachsenen überprüft. Der Zusammenhang von individuellen Bewegungsmöglichkeiten (action capabilities; vgl. Warren, 1984; Pepping & Li, 2000; Fajen et al., 2009) und An- und Aufforderungen der Umgebungsbedingungen wird so immer vollständiger beschrieben.
2. Die Erkundung von Stoffregen et al. (1999), ob auch externe Beobachter die Affordanz-Extraktion anderer Personen wahrnehmen können, sollte insbesondere unter der sportpädagogischen Prämisse, sich auf die Innensicht des Lerners zu beziehen, für den Vermittler im Aneignungsprozess von besondere Bedeutung sein. Die Arbeitsgruppe um Stoffregen hat dies am Beispiel der Frage, welche unterschiedlichen Sitzflächen-Höhen denn nun als Bewegungsmöglichkeit ‚besitzbar’ sind, untersucht und festgestellt, dass auch aus einer Fremdperspektive eines Betrachters im Vergleich mit seinen eigenen Bewegungserfahrungen stimmige Prognosen zu erwarten sind. Im Zusammenhang mit der für die Ruderbewegung notwendigen Gleichgewichts-Leistung vermuten wir, dass z.B. die spezifische Blickrichtung des Lerners ein auch von außen erkennbarer Hinweis auf die jeweilige Affordanz-Extraktion liefern kann (Lippens, 1990).
In der Darstellung einer motorischen Notfallreaktion beim Rudernlernen (Lippens, 1992a, 216-220) haben wir beschrieben, welche Bewegungsan- und -aufforderungen dem Lerner kurz vor dem Ins-Wasser-Fallenwiderfahren können. Es lässt sich zeigen, wie er z.B. die Bordwand oder den Ausleger des Skiffs als (ungeeignete) Festhalte-Möglichkeit sucht und noch nicht die Abstütz-Möglichkeiten auf dem Wasser mit den flachgedrehten Blättern erkennt.
Erst wenn seine Bewegungsmöglichkeiten um diese Balance-Erhaltungs-Strategie erweitert wurde, kann er weitere Bewegungsangebote des Ruderboots direkt wahrnehmen und z.B. die Wasserarbeit durch den geschickten Einsatz des Rollsitzes erweitern und so letztendlich mehr Vortrieb erzeugen. Dann wird der Rollsitz als „rollbar“ wahrgenommen und muss nicht festgehalten werden, um die Vielfalt der gleichzeitig zu kontrollierenden Freiheitsgrade einzugrenzen.
5. Methodische Schlussfolgerungen
Bezieht man die Überlegungen von Newell (1996; 403-406, 419-421) auf die Kentersituation im schmalen Einer, dann eröffnen sich zusammen mit den Innensichten der Lerner neue Interpretationsmöglichkeiten. Die motorische Notfallreaktion (Lippens 1992a, 216-220), die wir in der Systematisierung von Groebens Gegenstandseinheiten als „Tun“, „als Restkategorie zwischen ‚Handeln’ und ‚Verhalten’“ definiert haben (1986, 183f), verweist einerseits auf die extrinsische Dynamik der übergeordneten Aufgabe, andererseits auf die intrinsische Dynamik der beteiligten Person. Übergeordnete, globale Zwänge der Aufgabe werden in der Modellierung des Ruderns als „Umgang mit Komplexität und Unbestimmtheit“ beschrieben (Lippens, 1992a, 12f; vgl. a. 1997, 47-54). Engere, lokale Zwänge stehen in Wechselwirkung mit dem Lerner als Person. So ist es sinnvoll, z.B. bei relativ schlechten Wetter- und kalten Wasserbedingungen, möglichst die Haare beim Ins-Wasser-Fallen trocken zu halten, um nach dem notwendigen Umziehen wieder schnell am weiteren Vermittlungsprozess teilnehmen zu können. Gleichzeitig kann z.B. das empfindliche Holzskull ein vorsichtigeres Hantieren erfordern, wenn es aufgrund des anlandigen Winds droht, unter dem Steg zu verklemmen und möglicherweise beschädigt zu werden.
Vor allem aus den Arbeitsgruppen um Vereijken, die das Erlernen einer motorischen Fertigkeit auf dem Skisimulator experimentell erkundet haben, kommen weitere methodische Vorschläge aus einer systemdynamischen Perspektive. Beim Erschließen des Wahrnehmungs-Bewegungs-Raums soll weniger das Imitieren oder Nachmachen am Modell betont, sondern vielmehr die Umgebungsbedingungen so gestaltet werden, dass die vorherrschenden Bewegungsmuster destabilisiert und entsprechende Phasenübergänge zwischen den Lernsegmenten erleichtert werden (Corbetta & Vereijken, 1999). In der Vermittlungssituation soll das System angeregt werden, durch entdeckendes Lernen neue Bewegungsvariationen zu explorieren (Vereijken & Whiting, 1990). Auch Herwig (1988, 1996) hat aus einer mehr sportpraktischen Perspektive aufgezeigt, wie sich im Lernprozess Strategien verändern müssen, damit die angestrebten Bewegungskompetenzen angeeignet werden können. Beim Windsurfen-Lernen (von Blinden) ist es sinnvoll, dass eine anfängliche Herunterfallen-Vermeidungs-Strategie in eine systematische Erkundung der Kippeigenschaften des Brettes übergeht. Zwar wird der Lerner mit der ersten Strategie nicht ins Wasser fallen, gewinnt aber auch nicht die notwendigen Informationen über die kritischen Drehmomente des Brettes, die er benötigt, um beim Surfen schließlich diese Systemeigenschaften berücksichtigen und dadurch seine Balance auf dem Brett erhalten zu können.
Foto 3: Lerner in motorischer Notfallreaktion: „Ich bin umgekippt! Es passierte einfach…“
Die Destabilisierung von bestehenden Bewegungsmustern lässt sich gut am Beispiel des Festhaltens am Bootsrand in der motorischen Notfallreaktion gut illustrieren (vgl. Foto 3). Das bestehende Festhalte-Schema, das auf größeren Booten wie Motorbooten oder Ozeandampfern erworben wurde, macht ab einer bestimmten Bootsgröße keinen Sinn mehr, da es dann die Dynamik des Kenterns unterstützt. Gleichwohl ist das – wenn auch scheinbar erfolglose – Anwenden sinnvoll, da damit der lernrelevante Grenzbereich (Nagel, 1996) exploriert werden kann.
Karl Feige hat bereits 1939 unter dem Titel „Riemen, Skull und Paddel“ als sinnvolle Vorübungen eine Vielzahl von unterschiedlichen Manipulationstechniken vom Schwimmen bis hin zum Wriggen vorgeschlagen, um generelle Vortriebsmöglichkeiten im und auf dem Wasser zu explorieren. Derartige Bewegungserfahrungen unterstützen den Lerner dann, den spezifischen Suchraum für die Ruderbewegung zu erobern.
Newell et al. (1989) entwickeln das Konzept der unterschiedlichen Such-Strategien, um als Konsequenz aus unterschiedlichen empirischen Befunden dynamischer Systemtheorien eine Theorie der Praxis für das Erlernen motorischer Fertigkeiten zu entwerfen. So lassen sich drei Vorgehensweisen bei der Exploration der jeweiligen Bewegungs-Wahrnehmungs-Räume unterscheiden:
- Mit einer „blinden Strategie“ erfolgt keine Verarbeitung der gerade gemachten Erfahrungen aus vorherigen Versuchen, die Bewegungsaufgabe zu lösen. Das Vorgehen lässt sich mit einem unsystematischen „Verlieren im Detail“ (Lippens, 1992a, 161) oder „thematischen Vagabundieren“ (vgl. a. 1990) vergleichen. Hier wäre sich auch diskutieren, ob eine ausschließliche Soll-Wert-Fixierung auf die Körperarbeit statt einer Ist-Wert-Verbesserung (Tiwald, 1975) der Wasserarbeit eine derartige Lernstrategie unterstützen würde.
Foto 4: Schröder (1978, 32-33, Abb. 14a u. 15): „… geeignete Blattlage erfühlen“
- Eine „lokale Strategie“ zeichnet sich dadurch aus, dass kontinuierlich die engeren Umgebungsbedingungen des Wahrnehmungs-Bewegungs-Raums erkundet und systematisch ausgewertet werden, um Konsequenzen für das weitere, erfolgsversprechende Vorgehen zu erarbeiten (vgl. a. Hills et al., 2015, 12: „exploration/exploitation dilemma“). Ein Beispiel wäre das Erfühlen der richtigen Blattlage (vgl. Schröder, 1978, 31-34), wenn der Lerner mit dem Ausprobieren der Schwimmlage in der normalen Anlage und den Gegensatzerfahrungen (vgl. a. Hotz 1986) des Unter- und Überdrehens die optimale Stellung des Blattes beim Durchzug erfühlen soll (vgl. a. Foto 4).
3 Eine „nicht-lokale“ oder „globale Strategie“ geht über das Eruieren der engeren Umgebung hinaus und sucht den Bewegungs-Wahrnehmungs-Raum in diskontinuierlichen Sprüngen ab. Ein Beispiel für diese Vorgehensweise könnte in sportartübergreifenden Zusammenhängen liegen, wie z.B. verschiedene, funktional äquivalente Manipulationstechniken für die Fortbewegung eines Bootes (Staaken, Paddeln, Wriggen etc. im Sinne von Feige (1939)), die als Vorübungen eine Herausbildung des Wassergefühls provozieren.
Eine Erweiterung des speziellen Suchraums für die Wasserarbeit könnte aber auch in dem Erkennen des sinnvollen Rollsitz-Einsatzes liegen, wenn die anfangs einschränkenden Gleichgewichts-Probleme lösbargeworden sind (vgl. a. Abb. 6).
Abb. 6: Gestaltbildung im Lernprozess: Balancekraft über Rollsitzweg eines schnellen Lerners (Lippens, 1992b, 56; Abb. 11)
Einschränkend soll aufgeführt werden, dass die bisher vorliegenden empirischen Ergebnisse über dynamische Systeme in der Motorikforschung sich nur auf die relativ einfachen Bewegungen auf dem Skisimulator (Vereijken & Whiting, 1990) oder auf das Erlernen der Gehbewegungen von Kleinkindern beziehen (vgl. a. Thelen & Smith, 1994). Gleichwohl können eine Reihe von Befunden aus unseren Untersuchungen der Aneignungsprozesse im Rudern (Lippens, 1992a, 158-166) aus der Perspektive dynamischer Such-Strategien re-analysiert werden.
6. Such-Strategien in den Subjektiven Theorien
In den Inhalten der Subjektiven Theorien von Rennruderern (Lippens ,1992, 103-106) und Ruderanfängern (ebenda 162-164, 177-182, 192-194) spielt das Konzept der Geräuschwahrnehmung eine besondere Rolle (vgl. a. Lippens, 1989).
Foto 5: Lerner im Aneignungsprozess: Erkunden des Aufgabenraums
Vor dem Hintergrund einer systemdynamischen Modellierung ließen sich die Änderungen in den jeweiligen Geräuschwahrnehmungen von Lernern durchaus als komplexere Kontrollparameter[6] bei den verschiedenen Phasenübergängen vom einseitigen zum beidseitigen Rudern oder vom Rudern mit schleifenden, abstützenden Blättern zum Frei-Wasser-Rudern heranziehen, die dann die adäquaten Such-Prozesse im Aneignungsprozess unterstützen können (vgl. a. Lippens, 1992a, 227-229). In den Subjektiven Theorien von Teilnehmern einer Wassersport-Lehrveranstaltung können unterschiedliche Such-Strategien anhand der Inhalte und Strukturen rekonstruiert (vgl. a. Foto 5) und anhand von Videoaufzeichnungen evaluiert werden.
Die von einem Neulerner ausgewählten Items in seiner Kategorie „Geräusche“ thematisieren ausschließlich die Effekte der Wasserarbeit und fokussieren sich hierbei vornehmlich auf die Wasserlage des Blattes. Der Fortgeschrittene ordnet dagegen seine Items zur Geräuschwahrnehmung, die sich auf die Effekte seiner Ruderarbeit, „Geschwindigkeit“ bzw. „gutes Fahren“, beziehen, einer weitergefassten Kategorie „Kontrolle“ zu (Tab. 2; vgl. a. Abb. 6).
Tab. 2: Wortlaut der zugeordneten Items in dem Konzept zur Geräuschwahrnehmung eines Neulerners (Kategorie Geräusche: (nItems= 4) und eines Fortgeschrittenen (Kategorie Kontrolle: nItems= 2) aus der Studie OL/HH 03
Lernstufe | Wortlaut der Items aus der Kartenlegetechnik (KLT-Lern) |
Neulerner | die Eintauchtiefe |
das Hängenbleiben des Blattes | |
Geräusche, die anzeigen, ob die Skulls richtig gehalten | |
ob die Qualität des Ruderns an den Geräuschen zu erkennen ist | |
Fortgeschrittener | ob die Geräusche die Geschwindigkeit wiedergeben |
Geräusche, die ein Zeichen für gutes Fahren sind |
Auch aus dem Zusammenhang der jeweiligen Argumentationsstrukturen in den Subjektiven Theorien kann auf die verschiedenen Such-Strategien der Lerner geschlossen werden. So steht bei dem Neulerner die zentrale Kategorie „Stabilität und Koordination“ als lokales Gleichgewichts-Problem im Mittelpunkt seiner Struktur (Abb. 6, links). Diese Kategorie steht in Wechselwirkung mit allen anderen Kategorien in der Subjektiven Theorie mit Ausnahme der Kategorie „Ruderbewegung spüren“, die sie zusammen mit der Kategorie „Geräusche“ bewirkt.
Der Neulerner benutzt die Geräuschwahrnehmung zur wechselseitigen Kontrolle seiner zentralen Kategorie in den Subjektiven Theorien „Stabilität und Koordination“, die sich vor allem auf die Stellung der Blätter bei der Wasserarbeit bezieht (vgl. Abb. 6, links). Dies kann aus einer systemdynamischen Perspektive als lokale Suchstrategie interpretiert werden.
Abb. 6: Argumentations-Struktur in der Subjektiven Theorie (OL/HH 03) eines Neulerners (links) und eines Fortgeschrittenen (rechts).
Dagegen sieht der Fortgeschrittene die Geräuschwahrnehmung als Möglichkeit die Kategorie „Rhythmus und Stabilität“ zu steuern, indem er auf übergeordnete Auswirkungen auf die Fortbewegung des Bootes achtet (vgl. Abb. 6 rechts). Dies entspricht der globalen, nicht-lokalen Strategie innerhalb einer systemdynamischen Perspektive.
Es wäre in einer Längsschnittuntersuchung zu überprüfen, ob sich aus der Kategorie „Ruderbewegung spüren“ des Neulerners (Abb. 6, links) im Laufe seines fortschreitenden Aneignungsprozesses das Konzept des Bewegungsgefühls beim Rudern entwickeln kann. Die Kategorie „Gefühl“ in der Argumentationsstruktur des fortgeschrittenen Lerners (Abb. 6, rechts) interpretieren wir als übergeordnetes, globales Kriterien an, das als Ergebnis das Phänomen einer gelungenen Ruderbewegung beschreibt (vgl. a. Lippens, 1997a, 97-118). Diese Kategorie könnte auf ein lernstandspezifisches watermanship verweisen.
7. Bildungstheoretische Perspektive
Lern- und Optimierungsprozesse im Rudersport lassen sich in einer komplexen Bewegungshandlungsanalyse sowohl aus der Eigensicht des Sportlers als auch aus der Fremdsicht der Vermittler, Lehrer oder Trainer, analysieren (Lippens, 1997a, 20ff). Die dazu notwendige (Re-)Konstruktion der Subjektiven Theorien von Ruderern kann zu einer Verbesserung der Selbst- und Weltsicht führen, die über die nur technomotorischen Aspekte der Bewegungsproduktion hinaus verweisen. Wir haben dazu versucht, das Phänomen einer gelungenen Bewegungsausführung als Bewegungskompetenz mit dem Konzept des Bewegungsgefühls abzubilden (ebenda 97ff). Welche zusätzlichen Informationen, die über den nur technomotorischen Aspekt hinausgehen, dazu in das Gespräch eingebracht werden, hängt auch vom Interesse der Sportler und von der Akzeptanz der Untersucher ab. Allerdings haben wir bei den von uns untersuchten Lern- und Trainingsgruppen den Eindruck gewonnen, dass sich im Laufe der Zusammenarbeit eine Experimentiergemeinschaft im Sinne Mollenhauers (1971, 9-21) konstituiert hat, die versucht, im (bewegungs)pädagogischen Experiment eine “Höherbildung” der Beteiligten nach Benner (1972) anzustreben. Dabei lassen sich unterschiedliche Geltungsbereiche für Sportler bzw. Vermittler unterscheiden, die von einer Verbesserung der Koordinations-Strategien bis hin zur Ermöglichung übergeordneter Erfahrungen reichen können.
Koordinations-Strategien werden nicht dadurch verbessert, dass der Vermittler seinen Sportlern die zweckgerichtete Bewegungsausführung in Form von Technikleitbildern vorschreibt (vgl. a. Lippens, 2015). Auch im Hochleistungssport ist es sinnvoll, Bewegungsaufgaben im Wahrnehmungs-Bewegungs-Raum zu stellen, bei denen der Sportler die Bewegung empfinden und individuelle Lösung selbständig finden soll (Hensel, 1988; vgl. a. Schöllhorn, 1999). Um das biomechanisch begründete ‘Idealbild’ der individuellen Technik mit der ‘Vorstellungswelt des Sportlers‘ in Übereinstimmung zu bringen (vgl. a. Nolte, 1982, II), müssen dazu die Fremdsicht des Vermittlers und Eigensicht des Sportlers aufeinander bezogen werden (vgl. Lippens, 1992a, 37ff).
Übergeordneter Erfahrungen in Form eines Bewegungsgefühls für die gelungene Bewegungsausführung werden durch einen Vermittler nicht linear und monokausal verursacht, sondern müssen sich aus der jeweiligen Situation ergeben. Vermittler können lediglich günstige Ausgangsbedingungen schaffen, indem sie eine Fehlerfreundlichkeit in der Umgebung (Wehner 1992) sichern und so versuchen, die Passung zwischen Bewegungsan- und -aufforderungen (affordances) und Bewegungsmöglichkeiten (effectivities bzw. action capabilities) zu unterstützen. Sind sie aber in der Lage, sich mit ihren Sportlern über die Bedeutung dieser Bewegungserlebnisse zu verständigen, werden diese Erfahrungen nachhaltig verstärkt und erhalten eine bildungstheoretische Dimension. Interessanterweise haben wir in begleitenden Untersuchungen, die vorrangig eine Verbesserung der Bewegungstechnik zum Ziel hatten, beobachtet, dass die Stimmigkeit der optimalen Technik mit der ‚Vorstellungswelt der Sportler‘ in der Regel auch zum Erlebnis eines besonderen Bewegungsgefühls führt. Immer dann, „wenn alles stimmt“, wird dieses Konzept in den Inhalten ihrer Subjektiven Theorien besonders thematisiert. Die Reflexion dieser besonderen Erlebensqualität bringt die Erfahrung der Sportler ‚auf den Begriff’ und verändert so die eigenen Selbst- und Weltsicht. Diese Bewegungskonmpetenz kann zur Persönlichkeitsentwicklung der Sportler beitragen und wird so auch bildungstheoretisch bedeutsam (vgl. a. Klafki, 1964, 2001; Lippens, 2001).
Danksagungen
Ernst Hossner, Stefan Künzell und Hermann Müller verdanke ich wichtige Literatur-Hinweise zur neueren Bewegungswissenschaft. Rouwen Cañal-Bruland hat mich nach der Lektüre des Affordanz-Kapitels auf noch radikalere Gibsonianer, die den Aufforderungscharakter der Umgebung und die motorische Kapazität in Gesamtheit als Affordanz definieren, hingewiesen. Schorsch Scherer hat eine frühere Fassung kritisch mitdenkend kommentiert.
[1] Daher verwenden wir auch weiterhin dieses Begriffspaar, obwohl die wortgetreue Übersetzung „Wahrnehmung – Handlung“ heißen müsste (vgl. a. Hossner & Künzell, 2022, 180).
[2] „Search in each of these domains involves trade-offs between exploiting known opportunities and exploring for better opportunities elsewhere.“ (Hills et al., 2015, 1).
[3] Volker Nolte (2023) hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass dem Begriff ‚Löffel‘ ein nicht mehr aktuelles Antriebskonzept zugrunde liegen kann: „Gegen einen Widerstand Wasser wegschaufeln!“
[4] „Der Anfänger braucht die Blickkontrolle solange, bis er die Lage des Blattes erfühlen kann ( ). Und schauen kann man nur auf eine Seite zur gleichen Zeit.“ (Schröder 1964, 7)
[5] Die in der Literatur vorgeschkagene Übersetzung von affordance mit Handlungsangebot (vgl. z.B. Zimmer, 1991) soll hier angesichts des diskutierten constraint-Konzeptes modifiziert werden: Anforderungen sind die einschränkenden und Aufforderungen sind die erweiternden Angebote zum Bewegen.
[6] „… the view that individuals can pick-up higher-order variables…“ (Pacheco et al, 2019, 12)
Prof. Dr. J.F. Wagner Universität Stuttgart 2023
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Beobachtungen „aus der zweiten Reihe“
Zur Begegnung mit der kybernetischen Lehrweise Walter Schröders.
J.F. Wagner, Universität Stuttgart
1. Eine frühe Historie im Tübinger Ruderverein 1877/1911
„Daß neben den Fachleuten des Kinderruderns und den beteiligten Eltern […] auch
das Bayerische Fernsehen auf seine Kosten kam, dafür sorgte wohl vor allem die
Kinderruderriege des Tübinger Ruderverein 1877/1911. Was deren Bengels an
Kunststückchen im Boot vorführten – Stehen im Boot, Kopfstand, Herumturnen wie auf
einem ‚festen‘ Spielplatz – es war fast unvorstellbar. Und wenn zum Abschluß noch
der doppelte Salto im Skiff oder eine Eskimorolle vorgeführt worden wären, hätte sich
auch niemand mehr gewundert. Zu diesem Ausbildungsstand seiner Kinderruderer
kann man den Tübingern nur gratulieren.“ (Jennert, 1967).
Dieses Zitat findet sich in einem Bericht des Rudersport über die 1. Nürnberger
Kurzstreckenregatta am 8. Juli 1967 und beschreibt ein ganz außergewöhnliches
Auftreten der damaligen Kinderrudergruppe des Tübinger Rudervereins 1877/1911
(TRV). Dahinter steckte ein Vorhaben des Jugendwarts des Vereins und Pädagogen
Volker Hobohm, der versuchte, Schüler der Tübinger Gymnasien für das Rudern zu
begeistern. V. Hobohm hatte den ersten Lehrgang für Kinderruderwarte an der
Ruderakademie in Ratzeburg besucht und dabei Walter Schröders kybernetische
Lehrweise (Schröder, 1964) kenngelernt. Er begann daraufhin ab 1965 im TRV mit
genau diesem Ausbildungskonzept eine Rudergruppe aufzubauen, die insgesamt rund
50 Jungen und Mädchen zwischen 8 und 14 Jahren umfasste und auf vier Jugendskiffs
zurückgreifen konnte, die die Bootsweft Empacher für diesen Ausbildungszweck neu
entwickelt hatte. Der Erfolg dieser Arbeit war ungeahnt, dürfte auch die Erwartungen
von W. Schröder übertroffen haben und wurde in Presse und Fernsehen sowie seitens
des DRV wiederholt gewürdigt (Frauendiener & Rettner, 2002).
Zwei Jahre nach der Nürnberger Regatta war die Rudergruppe allerdings bereits
wieder aufgelöst. Die Ursachen dafür konnten nicht mehr in Erfahrung gebracht
werden. Sicherlich aber hatte zu dieser Entwicklung beigetragen, dass dem TRV kein
stehendes und flaches Badegewässer für das Kinderrudern unmittelbar zur Verfügung
stand, also vor Ort ein erhöhtes Gefahrenmoment für die Umsetzung von Schröders
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Ausbildungskonzept gegeben war. Hingegen entstand ab 1969 vor dem Hintergrund
des neu gegründeten, überaus motivierenden Bundeswettbewerbs Jugend trainiert für
Olympia eine Kooperation zwischen dem TRV und dem örtlichen Kepler-Gymnasium
zur systematischen Nachwuchsgewinnung, die von Schülern im Alter ab etwa 12
Jahren gut angenommen wurde und bald Modellcharakter erhielt. Über viele Jahre
hinweg funktionierte diese Zusammenarbeit sehr gut, was sich in zahlreichen
Endlaufplatzierungen des Kepler-Gymnasiums beim Bundesfinale von Jugend trainiert
für Olympia bis hin zu mehreren Bundessiegen widerspiegelt. Die Ruderausbildung im
Rahmen der Kooperation basierte aber nicht mehr auf der kybernetischen, sondern
auf der auf S. Fairbairn, H. Borrmann und K. Feige zurückgehenden natürlichen
Lehrweise (Funke, 2022; Schröder, 1978).
Im Rahmen der Kooperation zwischen TRV und Kepler-Gymnasium erlernte ich als
Schüler Mitte der 1970er Jahre in Tübingen selbst das Rudern. Zu meinen ältesten
Erinnerungen gehören hierbei vier kleine Kunststoffskiffs, die angestaubt hinten in der
Bootshalle des TRV lagen und von älteren Vereinsmitgliedern argwöhnisch beäugt
wurden: „Ein ‚Firlefanz‘ und ungeheurer Aufwand ist das vor zehn Jahren gewesen“,
wurde mir erzählt. „Die kybernetische Lehrweise“, hier vernahm ich den Namen zum
ersten Mal, „sei sicher ein interessanter Trainingsansatz, aber für die praktische Arbeit
im Verein viel zu anspruchsvoll.“ Für mich blieb der Eindruck zurück, dass W. Schröder
und V. Hobohm ihrer Zeit weit, vielleicht zu weit vorausgewesen waren.
Zum Abitur schenkte mir Reinhard Funke, Initiator der Kooperation zwischen TRV und
Kepler-Gymnasium, ein Taschenbuch, in dem W. Schröder die kybernetische
Lehrweise eingehend erklärt, sie thematisch in andere Lehrweisen einordnet und auch
den Bezug zum Rennrudern sowie zum Fahrten- und Wanderrudern herstellt
(Schröder, 1978). Dieses Buch hat sein Ausbildungskonzept damals wieder in
Erinnerung gebracht und ihr zu einer Popularität verholfen, die – zumindest aus dem
damaligen Tübinger Blickwinkel – nun über den Kreis einschlägiger Fachleute
hinausging (Funke, 2022). Für mich ist der Inhalt dieses Buches inzwischen zeitlos
geworden.
2. Versuch einer Einordnung
Der spannende Begriff der Kybernetik hatte bereits als Ruderanfänger meine Neugier
geweckt, und ich will vor dem Hintergrund einer einschlägigen
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ingenieurwissenschaftlichen Berufstätigkeit versuchen, Schröders Lehrkonzept aus
meiner heutigen Sicht ein wenig genauer einzuordnen.
Nicht zuletzt bedingt durch die großen Rüstungsanstrengungen des zweiten
Weltkriegs war die Mitte des 20. Jahrhunderts durch große technische Fortschritte im
Bereich der Sensorik, der analogen und digitalen Computer sowie den Algorithmen zur
Signal- und Informationsverarbeitung charakterisiert. So entstanden etwa erste
leistungsfähige Anlagen zur automatischen Steuerung von Flugzeugen, die im Grunde
Systeme zur Bewegungsregelung von (fliegenden) Objekten darstellten. Gleichzeitig
fielen bereits damals in diesem Zusammenhang Parallelen zwischen technischen
Systemen und höheren Organismen, also biologischen Systemen, auf. Der Versuch,
diese Gemeinsamkeiten zu fassen, führte auf den Begriff der Kybernetik (Wiener,
1948) und eröffnete der Regelungs- und Systemtheorie neue Perspektiven, die weit
über die Realisierung von Regelkreisen durch einfache mechanische Vorrichtungen
oder elektrische Schaltungen hinauswiesen.
Die genannte technische Entwicklung setzte sich während des Kalten Krieges weltweit
unvermindert fort. Ein prominentes Beispiel ist der Wettlauf der USA und der UdSSR
um die erste bemannte Mondlandung. Die zuverlässige Gewinnung und Verarbeitung
sowie sachgerechte Verwendung von Bewegungsmessdaten war damals eine der
technischen Herausforderungen, die für das Überleben der Astronauten bzw.
Kosmonauten elementar waren. Insofern war die Kybernetik in den 1960er Jahren ein
ungeheuer populäres Forschungsgebiet, was sich in Deutschland u.a. in der Gründung
des Max-Planck-Instituts für Biologische Kybernetik (Tübingen, 1968) sowie in der
Einrichtung von Studienangeboten für Technische Kybernetik an den Universitäten in
Ilmenau und Stuttgart (1968 bzw. 1971) widerspiegelt. Und an der Bedeutung der
Kybernetik für die Bewegungsregulation technischer Systeme hat bis heute nichts
geändert. Fragen des maschinellen Bewegungslernens und der Künstlichen
Intelligenz für die Robotik sind prominente aktuelle Forschungsthemen.
Vor diesem Hintergrund ist die Wortwahl kybernetische Lehrweise nicht überraschend,
und W. Schröder verweist 1964 bzw. 1978 beim Ruderlernen selbst auf die Aspekte
der Steuerungs- und Regelungsvorgänge, d.h. auf das Zusammenspiel zwischen
körpereigener Sensorik des/der Ruderers/Ruderin, neurologischer Signalverarbeitung
und Muskulatur. Konkretisiert werden diese Gedanken durch Begriffe wie
Bewegungslernen, -erfahrung und -gedächtnis. Seine unter Rückgriff auf Karl Adam
erhobene Forderung, dem Ruderanfänger eine Bewegungsaufgabe zu stellen – also
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ihn selbständig zu einem zielgerichteten, zunächst zu explorierenden
Bewegungsverhalten zu veranlassen – anstelle wie in der orthodoxen Lehrweise
Bewegungsanweisungen zu erteilen, muss hier allerdings differenzierter betrachtet
werden. Auch die Umsetzung von Bewegungsanweisungen kann unter Einsatz der
körpereigenen Sensorik erfolgen. W. Schröder versteht hierunter allerdings das
„maschinelle“ Ausführen einer anzulernenden Bewegung, wobei die körpereigene
Sensorik wenig relevant ist und durch die äußere Beurteilung des Trainers ersetzt wird.
Dadurch entsteht zwar auch ein Regelkreis, dessen Leistungsfähigkeit und „Flinkheit“
jedoch ungleich schwächer ausfällt.
Die Unterscheidung zwischen orthodoxer, kybernetischer und natürlicher Lehrweise
(Schröder 1978) soll an dieser Stelle noch etwas eingehender betrachtet werden.
Diese Überlegungen werden der Einfachheit halber am Rennskiff vorgenommen, weil
hier die maßgeblichen Bewegungsverhältnisse am klarsten hervortreten.
Das Rennskiff ist im Wesentlichen ein symmetrisches Fahrzeug, dessen
Symmetrieebene durch seine Längs- und seine Hochachse (ξ und ζ) gebildet werden
(Abb. 1). Seine Bewegung zerfällt in Entsprechung zu Begriffen aus der Flugmechanik
in zwei Anteile, in die Längsbewegung in bzw. parallel zur Symmetrieebene und in die
Seitenbewegung senkrecht dazu (η-Achse; Jendrusch et al., 1997). Jeder Anteil
besteht wiederum aus drei Bewegungskomponenten (Abb. 1). Die Bewegungsaufgabe
des Ruderns teilt sich entsprechend auf:
– Längsbewegung:
Beherrschung des Fahrens des Boots unter ggf. hohem Krafteinsatz. Zugleich ist
das Anregen der Tauch- und Nickbewegung des Boots durch die
Vertikalbewegungen des Oberkörpers, der Arme und der Skulls klein zu halten, um
den Energieverlust durch Wellenschlag zu minimieren. Ein gewisses Mindestmaß
der Nickbewegung ist aufgrund der Rollsitz- bzw. (etwas kleiner) der
Rollauslegerbewegung aber unvermeidlich.
– Seitenbewegung:
Minimierung sämtlicher Bewegungskomponenten des Boots aus Rollen, Gieren und
Schieben, so dass eine angemessene, geordnete Längsbewegung überhaupt erst
möglich wird. Völlig vermeiden lässt sich die Seitenbewegung allerdings
grundsätzlich nicht. Selbst das Rudern im Skiff ist wegen des Übergriffs der Skulls
nicht vollständig symmetrisch, für die Riemenboote ist die Asymmetrie noch
offensichtlicher.
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Das Schieben tritt in der Praxis nur bei starkem Seitenwind oder Wellenschlag auf
und ist nur schwer zu beeinflussen. Das Gieren, also das Einhalten des geraden
Kurses des Bootes, bereitet Anfängern durchaus Schwierigkeiten, und die
Anforderung an die Minimierung der Rollbewegung ist noch deutlich höher.
Abb. 1: Seitenbewegung (oben) und Längsbewegung (unten) des Ruderboots.
Längs- und Seitenbewegung unterscheiden sich außerdem durch die Zeitskalen, auf
denen sie ausgeführt werden. Erstere ist im Wesentlichen durch die Schlagzahl
bestimmt, die dominierende Frequenzen der Seitenbewegung sind hingegen höher
und haben ein breiteres Spektrum. Zudem gibt es beim Stabilitätsverhalten (im Sinne
der Regelungstechnik) Unterschiede: Nick- und Tauchbewegung sind stabil, d.h. sie
kehren nach einer Auslenkung aus einer gedachten jeweiligen Nulllage in diese zurück
und kommen dort zur Ruhe, soweit keine weitere Bewegungsanregung folgt. Für das
Fahren gilt dies nur noch für die Geschwindigkeit, aber nicht für den Längsversatz des
Bootes. Hier kann deshalb von grenzstabilem Verhalten gesprochen werden.
Letzteres gilt auch für das Schieben und das Gieren. Das Rollen hingegen ist
grundsätzlich instabil. Kleinste Störungen bringen das Boot zum Kentern, sofern dieser
Bewegungskomponente nicht durch die Skulls oder Gewichtsverlagerungen
entgegengewirkt wird. Die höheren Frequenzen und die Stabilitätsproblematik machen
also die Seitenbewegung motorisch deutlich anspruchsvoller und fordern
Bewegungsgefühl wie Gleichgewichtssinn mehr als die Längsbewegung.
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Ruderanfänger haben daher zwei ganz unterschiedliche Bewegungsaufgaben zu
lösen, und das muss keineswegs gleichzeitig geschehen:
– Orthodoxe Lehrweise:
Das alleinige Erlernen der Längsbewegung mit Hilfe des Ruderbocks oder des
Ruderbeckens steht hier an erster Stelle, wobei die fehlende kinästhetische
Rückmeldung der Bootsbewegung der Ausbildung eine Form von Drill verleiht.
Letzteres birgt natürlich die Gefahr der Einübung unzweckmäßiger
Körperhaltungen, ist für Kinder sicher weniger geeignet, und verlangt für das
nachgelagerte Erlernen der Seitenbewegung zwangsläufig den Einsatz von Gigund
Großbooten.
– Kybernetische Lehrweise:
Hier wird die Reihenfolge des Erlernens von Längs- und Seitenbewegung
gegenüber dem orthodoxen Ansatz einfach vertauscht und das kinästhetische
Empfinden des Bewegungsapparats sowie der Gleichgewichtssinn in den
Vordergrund gestellt. Das Ausbalancieren und die Kurssteuerung des Boots stehen
an erster Stelle. Das Skiff kann dabei durchaus zunächst als reines Turngerät
benutzt werden, und es ist letztlich dem Ruderanfänger selbst überlassen, wann er
sich sicher genug fühlt, das nachgelagerte, hier primär implizite Erlernen der
Längsbewegung anzugehen, und ob er eventuell später wieder zur Nutzung des
Boots als Turngerät zurückkehren will.
Es steht nun statt dem Drill das spielerische und erlebnisorientierte Lernen im
Vordergrund. Damit ist diese Lehrweise natürlich sehr viel kindgerechter, beugt
unzweckmäßigen Körperhaltungen vor und besitzt die altersgemäße Einschränkung
des orthodoxen Ansatzes – Rudern sollte nicht vor dem 14. Lebensjahr begonnen
werden – nicht.
– Natürliche Lehrweise:
Dieser Ansatz nimmt eine Mittelstellung zwischen den anderen beiden Lehrweisen
ein, verzichtet also auf eine Auftrennung des Erlernens von Längs- und
Seitenbewegung und stellt damit eigentlich das anspruchsvollste
Ausbildungskonzept dar. Es hat allerdings den großen praktischen Vorteil, dass es
gerätetechnisch und vom Ruderrevier her nicht an die Bedingungen geknüpft ist wie
die anderen beiden Ausbildungskonzepte.
Ergänzend sei angemerkt, dass das von W. Schröder skizzierte Zusammenspiel
zwischen körpereigener Sensorik, neurologischer Signalverarbeitung und Muskulatur
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keineswegs implizieren sollte, dass es sich hier um einfache Regelkreise handelt. Die
hohe Zahl der Freiheitsgrade des menschlichen Bewegungsapparats, Nichtlinearitäten
bei Kinematik, Dynamik, Sensorik und Signalverarbeitung sowie Querkopplungen bei
Bewegungselementen und Signalwegen lassen ein komplexes kybernetisches System
entstehen. Fragen der Beobachtbarkeit einzelner Bewegungskomponenten stellen
sich hier ebenso wie die Modellierung des Bewegungslernens (z.B. als
Optimierungsproblem) und eine mögliche kinästhetische Prädiktion bei der
Ausführung schneller Bewegungen. Hierzu sei auf Ausführungen an anderer Stelle
verwiesen (Lippens, 2023). Allerdings ist festzuhalten, dass ein kybernetisches
System nur dann angemessen funktionieren kann, wenn es quantitativ wie qualitativ
über geeignete Sensorsignale verfügt. Letzteres ist Ausgangspunkt der
kybernetischen Lehrweise.
Ebenso sei angemerkt, dass die orthodoxe Lehrweise mit der Einführung von
Ruderergometern eine Renaissance erfahren hat. Diese Geräte fördern zwar Kraft und
Ausdauer für die Längsbewegung, vermeiden aber die motorischen
Herausforderungen der Seitenbewegung. Das dadurch angebotene „bequeme
Rudern“ dürfte ein wesentlicher Grund für die Popularität von Ergometern sein.
3. Die zweite Begegnung mit der kybernetischen Lehrweise
Während meine Studienzeit begegnete mir Walter Schröders Ausbildungskonzept ein
zweites Mal. Im TRV war Anfang der 1980er Jahre auf Initiative des Vereinsmitglieds
Georg Goerke und des Vereins VISUS (Verein zur Integration Sehender und
Sehgeschädigter im Sport, entstanden an der Universität Tübingen) eine Rudergruppe
für Blinde und Sehgeschädigte gegründet worden, um dieser Personengruppe die
gefahrlose und angstfreie Ausübung einer naturgebundenen Sportart zu ermöglichen,
die Herz und Kreislauf sowie Muskelkraft besonders forderte. Die Gruppe war zudem
Schrittmacher des Projekts Vierer mit des Deutschen Ruderverbandes (DRV), das
gleichartige Initiativen in den deutschen Rudervereinen zusammenfasste und
koordinierte (1985 bis 1989). Zum Kuratorium dieses Vorhabens, das heutzutage unter
dem Stichwort Inklusion verortet würde, gehörte selbstverständlich auch W. Schröder,
der im Abschlussbericht des Projekts die Adaption der kybernetischen Lehrweise an
die Lernbedingungen Blinder und Sehgeschädigter beschreibt (Kreiß, 1989, S. 11-20):
Das Fehlen visueller Informationen erschwert zwar die Einweisung in die Bootstechnik
und die Interpretation verbaler Rückmeldungen des Trainers, das Bewegungsgefühl
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inkl. Gleichgewichtssinn ist beim Ruderanfänger hier dagegen eher ausgeprägter und
gewinnt so noch an Gewicht. Daher bedarf die kybernetische Lehrweise nur gewisser
veränderter Rahmenbedingungen wie ein gesteigerter Zeitaufwand bei der
Bootseinweisung durch Ertasten und der Nutzung des Gig-Doppelzweiers als primäres
Ausbildungsboot, optimalerweise mit einem Helfer auf dem Bugplatz. Zudem erhält
auch die akustische Wahrnehmung, d.h. das Klangbild eines gelungenen und (im
Mannschaftsboot) synchronen Ruderschlags eine erhöhte Bedeutung.
Ich selbst gehörte damals zu den Betreuern der Gruppe für Blinde und Sehgeschädigte
im TRV und gönnte mir daher nach Ende des Studiums 1986 am Ruderzentrum Berlin
einen Ausbildungslehrgang zum Fachübungsleiter. Hier lernte ich W. Schröder
persönlich kennen. Es waren zwar nur zwei Tage, die ich ihn als Dozent erlebte, aber
die Zeit war ungeheuer dicht gepackt. Wenn ich in die damaligen Lehrgangsunterlagen
hineinschaue, staune ich heute noch über die Menge an Lehrstoff, die theoretisch wie
zu praktisch bewältigen war und bewältigt wurde:
– Geschichte des Rudersports und der Rudertechnik,
– orthodoxe, natürliche und kybernetische Lehrweise,
– Anfängerausbildung, Lernstufen und Lernziele,
– beispielhafter Aufbau eines Ruderkurses,
– detaillierter Bewegungsablauf beim Rudern,
– typische Bewegungsfehler und Fehlerkorrektur,
– Anleitung auf dem Wasser und Videoanalyse.
Hinzu kann noch allgemeine Einheit Theorie und Praxis des Circuittrainings, was ich
besonders in Erinnerung habe, weil beim praktischen Teil die Frage entstand, wer
beim Seilspringen die meisten Doppelschwünge am Stück schaffen würde. Es war W.
Schröder, der mit der – angekündigten – Zahl 50 diesen Wettbewerb mit großem
Abstand gewann. Topfit, zugleich praktisch wie theoretisch sicher und ausgewiesen,
dazu sympathisch und bescheiden im Auftreten – so erinnere ich mich an ihn noch
heute.
4. Eigene wissenschaftliche Arbeiten
Manchmal gibt es im Leben merkwürdige Zufälle. Während des
Fachübungsleiterlehrgangs hielt ich ein sehr anschauliches Lehrbuch über
Sportphysiologie in den Händen, das der Mediziner Horst de Marées verfasst hatte (de
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Marées, 1981). Nach meiner Rückkehr vom Lehrgang an das Institut A für Mechanik
der Universität Stuttgart, wo ich kurz zuvor Doktorand geworden war, fragte mich einer
der dortigen Professoren, Helmut Sorg, Fachmann für Kreisel- und Inertialtechnik,
ausgerechnet nach dem Autor dieses Buchs. Er hätte eine Anfrage von H. de Marées,
Lehrstuhl für Sportmedizin der Ruhr-Universität Bochum, vorliegen, der ein
Kreiselmesssystem 1 für die Quantifizierung der Gleichgewichtsmotorik im Sport
suchen würde. Und er bat mich, sich der Sache anzunehmen.
Wenige Tage später lernte ich in Stuttgart H. de Marées und seine beiden Mitarbeiter
Thomas Henke und Ulrich Bartmus kennen. Letzterer befand sich gerade unter der
Beteiligung von W. Schröder im Promotionsverfahren mit dem Thema
Untersuchungen zum ruderspezifischen Gleichgewicht, während T. Henke sich mit
ähnlichen Untersuchungen beim Radfahren beschäftigte (Bartmus, 1987; Henke,
1994). Sie brachten ein ausgemustertes Kreiselmesssystem der Bundeswehr mit, das
schon ohne die notwendige Stromversorgung mit einem Gewicht von rund 9 kg und
Abmessungen von über 20 cm für die beabsichtigten Untersuchungen ersichtlich viel
zu groß und zu schwer war. Geeignetere Kreiselsysteme gab es damals aber nicht.
Es gelang in den Folgejahren jedoch gemeinsam, aus einzelnen Flugkörperkreiseln
ein geeignetes Messystem zu entwickeln und zu qualifizieren, das mit rund 1,5 kg
deutlich leichter und unter dem Rollbahndeck eines Skiffs auch gut zu verstecken war
(Abb. 2) (Wagner, Bartmus & de Marées, 1993).
Das Messsystem erlaubte, die Roll-, Nick- und Giergeschwindigkeit ωξ , ωη und ως
(Abb. 1) unmittelbar zu messen. Damit waren die beiden wichtigen Komponenten der
Seitenbewegung direkt erfassbar, und es war eine Möglichkeit geschaffen, die
Lernerfolge bei der kybernetischen Lehrweise einfach zu quantifizieren. Dies
bedeutete eine zentrale Erweiterung des Stands der Messtechnik bei Ruderbooten,
der damals durch die Messung von Kraftgrößen und Verschiebungen bzw.
Verdrehungen an Rollsitz, Dolle und Stemmbrett sowie eingeschränkt durch die
Messung von Beschleunigungen charakterisiert war (Nolte, 1986; Hänyes, Lippens &
Körndle, 1988).
1 Kreiselmesssysteme in diesem Zusammenhang sind Geräte, die mit Hilfe spezieller Sensoren
Drehwinkel oder Drehgeschwindigkeiten inertial messen können. Die Sensoren werden nach L.
Foucault Gyroskope genannt und basieren in ihrer traditionellen Form auf schnell rotierenden Scheiben
oder Kugeln. Daraus leitet sich ebenso gebräuchliche Bezeichnung Kreisel ab (Magnus, 1971).
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Abb. 2: Das Bochumer Messskiff aus drei Kreiseln und Einheit für Antrieb und Messsignale.
Die Einführung des Messverfahrens mit Gyroskopen war zu dieser Zeit auch deshalb
bedeutsam, weil vorliegende Forschungsarbeiten sich weit überwiegend mit der
Längsbewegung befassten und ein Vorliegen einer symmetrischen Bootsbewegung
bzw. sehr gutes Beherrschen der Seitenbewegung voraussetzen. Die Ruderaufgabe
wurde in dieser Sichtweise regelmäßig auf eine Maximierung der durchschnittlichen
Bootsgeschwindigkeit reduziert, während motorische Fragestellungen, die die
kybernetische Lehrweise in den Vordergrund gerückt hatte, kaum berücksichtigt
wurden (Jendrusch et al., 1997). Diese Konzentration auf eine ergebnis- und z.T.
publicityorientierte Optimierung des Wettkampfbetriebs anstelle einer ganzheitlichen
Sichtweise der Bewegungsaufgabe des Ruderns erschien mir (nicht nur damals) als
überraschend einseitig.
Nach dem Nachweis der Eignung des Messverfahrens mit Gyroskopen endete das
Bochumer Vorhaben, da H. de Marées leider viel zu früh verstarb. Rückblickend kann
aber festgestellt werden, dass der Messansatz weltweit in dieser Form erstmalig zum
Einsatz kam (Wagner, 2018). An der Universität in Sydney wurde einige Jahre später
die Brauchbarkeit des Messverfahrens bestätigt (Loschner, Smith & Galloway, 2000)
und an der ETH Zürich systematisch ausgebaut, so dass nicht nur die Drehbewegung
des Bootes, sondern auch der Skulls vollständig erfasst wird (Tessendorf et al., 2011).
Inzwischen ist der Einsatz von Kreiselmesssystemen in Ruderbooten ein etabliertes
wissenschaftliches Verfahren (Reischmann, 2015). Hierzu trug auch wesentlich die
Einführung der sogenannten MEMS-Technologie (Micro Electro Mechanical Systems)
bei, die den Bau sogenannter Inertial Measurement Units (IMU) aus drei Gyroskopen
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und drei Beschleunigungsmessern ermöglichte. Dies ging mit einer enormen
Verringerung der Größe und des Stromverbrauchs dieser sechs Sensoren einher, so
dass sie heute selbst in Smartphones eingebaut sind und der Anforderung eines
rückwirkungsfreien Einsatzes in der biomechanischen Bewegungserfassung
weitestgehend genügen (Wagner, 2018).
Das Ende des Bochumer Vorhabens fiel für mich zeitlich mit dem beruflichen Wechsel
in die freie Wirtschaft zusammen, wo andere Aufgaben auf mich warteten. Einige Jahre
später kehrte ich in Wissenschaft zurück und begann 1998 ein Habilitationsvorhaben
an der TU Hamburg-Harburg. In dieser Zeit begegnete ich nicht nur W. Schröder
erneut, sondern es entstand auch eine fruchtbare Zusammenarbeit mit der
Arbeitsgruppe um seinen Schüler Volker Lippens, bei der allerdings nicht der
Rudersport, sondern Inline-Skaten, Eislaufen und Skilanglauf im Mittelpunkt stand.
Bei den zuletzt genannten Sportarten liegt in ähnlicher Weise eine Dualität zwischen
Kraft und Ausdauer einerseits und Aufrechterhaltung des Gleichgewichts andererseits
vor, wobei die Knöchelbewegung ein zentraler Untersuchungsgegenstand ist. Daher
lag es nahe, das Messverfahren für die Seitenbewegung des Ruderboots auf die
Untersuchung der Stabilisierungsfähigkeit des Knöchels zu übertragen. Als Sportgerät
anstelle des Bootes diente nun ein Turn- oder Therapiekreisel (hier liegt eine zufällige
Namensgleichheit mit Gyroskopen vor, die sich nur aus der äußeren Form des Gerätes
ableitet). Für dieses Übungsgerät entstand unter Zuhilfenahme der damals noch
jungen MEMS-Technologie ein kinematisch verfeinertes Messsystem aus drei Kreiseln
und drei Beschleunigungsmessern
(Abb. 3; Wagner et al., 2003), das über viele Jahre
hinweg für die Quantifizierung der Gleichgewichtsmotorik des Knöchels eingesetzt
wurde (Lippens, i.d.B.). Auf diese Weise kam es zur Übertragung wissenschaftlicher
Methodik aus der kybernetischen Lehrweise auf andere Sportarten.
5. Fazit
Die kybernetische Lehrweise erscheint rückblickend als typische Ausprägung des
wissenschaftlichen Umfelds der 1960er Jahre und zugleich als konsequente
Weiterentwicklung des Übergangs von der orthodoxen zur natürlichen Lehrweise.
Auch wenn ihre Umsetzung in Reinform mit einigem Aufwand verbunden ist, so haben
Ihre Elemente auch die natürliche Lehrweise wesentlich bereichert und sind so ein
integraler Bestandteil bei der Anfängerausbildung im Rudern geworden.
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Abb. 3: Instrumentierter Turnkreisel.
Gerade für die motorische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ist die simultane
Beherrschung von Längs- und Seitenbewegung des Ruderboots eine wertvolle
Herausforderung, der die kybernetische Lehrweise besonders gerecht wird. Die
Kombination von mittlerer bis hoher Ausdauerintensität mit der Bewältigung einer
anspruchsvollen Gleichgewichtsaufgabe ist unter ganzheitlichen Aspekten aber auch
eine für Erwachsene lohnende Technik zur Gesunderhaltung. Für diesbezügliche
wissenschaftliche Untersuchungen stehen heute messtechnische Möglichkeiten zur
Verfügung, von denen W. Schröder nur träumen konnte. Vertiefende Analysen
benötigen neben Messdaten allerdings auch theoretische Ansätze und Hypothesen,
die eine sachgerechte mathematische Datenauswertung erst möglich machen. Hier
besteht noch erheblicher Forschungsbedarf. Das wissenschaftliche Erbe von Walter
Schröder sollte Ansporn zu solchen weiterführenden Arbeiten im Rudersport sein.
Literatur
Bartmus, U. (1987). Untersuchungen zum ruderspezifischen Gleichgewicht. Dissertation,
Ruhr-Universität Bochum.
Frauendiener, J., Rettner, K. (Hrsg.) (2002). 125 Jahre Tübinger Ruderverein „Fidelia“
1877/1911 – Festschrift. Tübingen: Tübinger Ruderverein „Fidelia“ 1877/1911.
Funke, R. (2022). Persönliche Korrespondenz vom 20.12.2023 mit dem Autor.
Hänyes, B., Lippens, V., Körndle, H. (1988). Wenn jeder Schlag sitzen soll … – Im Andenken
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Deutscher Ruderverband.
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Lippens, V. (2023). Watermanship oder Der Lauf des Bootes. Vermitteln im
bewegungspädagogisches Experiment. Resümierende methodische
Betrachtung. In diesem Band
Lippens, V. (2016). „Wenn schon, denn schon!“ Prolegomena zu einer Theorie der
Gleichgewichts-Leistung im Handlungsbezug. In Lippens, V. & Nagel, V.
(Hrsg.). Zur Problematik der Gleichgewichts-Leistung im Handlungsbezug:
Theorie – Messtechnik – Datenverarbeitung – Anwendungen. Hamburg:
Feldhaus, Edition Czwalina, 8-26.
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sculling. Hong, Y., Johns, D.P., Sanders, R. (Hrsg.). 18 International Symposium on
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de Marées, H. (1981). Sportphysiologie. 3. Aufl. Köln-Mülheim: Tropon.
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Wiener, N. (1948). Cybernetics: or control and communication in the animal and the
machine. New York, Paris: Wiley, Hermann.
Hans Lenk
Thesen zum Wesen des Rudersports
Der Rudersport ist ein besonders anspruchsvoller, trainingsintensiver vielseitiger Kombinationssport: Er erfordert und übt Körperkraft und Kreislaufstärke, Ausdauer und Geschicklichkeit, Gerätbeherrschung und vielseitige Muskelanspannung, Rhythmus und Reaktionsvermögen, Eigenleistung und Engagement, Leistungsbereitschaft und Gleichberechtigung, Selbstüberwindung und Mannschaftsgeist. Ruderer sind naturverbunden und noch echte Amateure. Der Rudersport ist ein idealer, rein gebliebener Mannschaftshochleistungssport, Symbol der Zusammenarbeit, wie kaum eine andere Aktivität „im Zusammenspiel der Kräfte Sinnbild sein kann“ (nach Hagelstange).
1. Zuerst das Wichtigste: Rudern ist ein Mannschaftshochleistungssport par excellence: „Der Achter, das ist die Mannschaft an sich“, Hagelstanges zuvor geschilderte Einsicht seiner dichterischen Apotheose des olympischen Achterfinales von Rom 1960 gilt recht generell: Der Achter ist „Sinnbild der Mannschaft“ „im Zusammenspiel der Kräfte“: „Der Achter, das ist die Mannschaft an sich.“ Hagelstange spricht wie erwähnt von jener einzigartigen „Einheit“, in der „die entfesselte und zugleich rationalisierte Kraft von acht herkulischen und zugleich sensiblen Menschen in harmonischem Rhythmus“ das Boot vorantreibt.
Als Ideal mag das gelten, selbst wenn die Wirklichkeit keineswegs immer so ist. Immerhin: Alle Ruderer ziehen am gleichen Riemen – mit gleicher Kraft, gleicher Druckverteilung, gleicher Bewegung in die gleiche Richtung: Die Ruderbewegung als Ideal der höchstmöglichen formgleichen Zusammenarbeit. Keiner kann im Rennen sich selbst allein hervortun; seine Bewegung ist in die der Mannschaft, in deren Rhythmus integriert. Am ehesten mag noch der Schlagmann Schlagzahl und -länge verändern, seinen eigenen Willen durchsetzen, seine Vorstellungen verwirklichen – doch dies ist mehr eine taktische, psychische, anstachelnde oder eben führende Handlungsweise: Die Bewegung bleibt bei allen gleich: (Negativ gesehen: Von einem Fehler eines einzigen wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Erfolg aller und somit jedes einzelnen vereitelt.) Von jedem einzelnen, jeweils gleichen, rhythmisch integrierten und koordinierten, aber kraftmäßig additiven Beitrag jedes einzelnen hängen die Gesamtbewegung und der Erfolg aller ab.
In der Ruderbewegung sind alle gleich: Rudern das reine egalitärste Sinnbild des gemeinschaftlichen formgleichen Zusammenhandelns: „Der Achter, das ist die Mannschaft an sich!“ Wir, die Ruderer, sitzen alle „in einem, im gleichenBoot“, alle gleich handelnd, gleich wichtig. Die Metapher trägt weiter. Das Bild hat mythische Faszination, ist ein geradezu philosophisch bedeutsames Symbol.
2. Das Rudern ist fraglos kein überaus telegener Zuschauersport, obwohl es sehr dynamische Rennen gibt. Das Rennen trägt seine Dramatik meist innerlich in sich. Rudersport kann sich nicht so leicht wie andere Sportarten den Kameraaugen gegenüber exponieren – ebenso wenig auch gegenüber dem Kommerz. Rudern ist sozusagen ein Sport für Insider und dadurch für echte Amateure – nicht für Medien und Voyeure, nicht für Spesenritter und Litfassathleten.
Glücklicherweise entgeht der Rudersport aufgrund des Mangels an Versuchungen und Versuchern vielen heute eskalierenden Hauptgefahren des Hochleistungssports in unserer medienorientierten Selbstbespiegelungsgesellschaft, die sich zwar „Leistungs-Gesellschaft“ nennt, aber in vielem eher eine Gesellschaft des sozialen äußeren Erfolges, oft gar des Scheinerfolgs oder der marktschreierischen Ansprüche an andere oder alle ist.
Der Rudersport konnte noch unverzerrt, unverfälscht echter Amateursport bleiben, der wenig nur von sekundärer Motivation, von der Jagd nach Geld, Show und Karrierevorteilen beeinflusst ist.
3. Den rudernden Athleten ist es wirklich nicht leicht zu durchstehen, wenn die Anspruchsgesellschaft vom Stamme „Nimm und genieße!“ ganz andere Werte favorisiert: Rudern ist und bleibt eine der trainingsintensivsten, „härtesten“ Sportarten. Hier ist nichts zu erschleichen oder vorzutäuschen. Den Erfolg muss man sich besonders mühsam, äußerst aufwendig selbst erarbeiten. Anspruchsgesellschaftlich gesehen ist er kein „Geschäft“, kein passiver Lustgewinn. Rudern ist kein Sport für Showmen, für Stars und Möchte-gern-Stars. Ein Sport also, der sich besonders unverfälscht auf das Einfache, Wesentliche: auf das Leistungshandeln, den Wettkampf, auch die Auseinandersetzung mit Naturumständen und ‑widerständen (Wind, Wellen, Strömung) und das mannschaftliche Zusammenwirken konzentriert.
4. Es handelt sich beim Rudern um eine Kopplung von körperlichem Krafteinsatz, Geschicklichkeit, Balance, Rhythmus und Reaktionsvermögen, Körper- und Gerätebeherrschung sowie besonders auch von der Kreislaufkondition, der Ausdauerfähigkeit (ein wenig spielt auch Bewegungsschnelligkeit eine Rolle). Rudern erfordert sehr vielseitige Fähigkeiten und deren Ausschöpfung.
5. Rudern ist ein besonders echter Leistungssport. Leistungstraining, Leistungseinsatz, Selbstüberwindung sind in solchen kreislaufintensiven Sportarten am höchsten – dort, wo höchster Erfolg an der Grenze zwischen normaler Selbstüberwindung und totaler Selbsthingabe, ja, fast Selbstaufgabe angesiedelt ist. Besonders in heutigen Spitzenrennen entscheidet manchmal erst äußerste Selbstüberwindung. In manchen, seltenen Rennen muss man, kann man schneller rudern, als man eigentlich könnte – bis einem „schwarz“ wird vor Augen, im tranceartigen Einsatz. Das Rudern als psychologischer Leistungseinsatz, als extreme Energiemobilisierung bis an die Grenzen der willensmäßig zugänglichen Restreserven, bis hin zur äußersten Selbstüberwindung im konzentrierten Einsatz innerhalb beschränkter Zeit ist zweifellos ein geradezu ideales Bild der eigenen Anstrengungsleistung.
6. Obwohl das Rudern eine Gerätesportart und somit von der Technik im Bootsbau, bei der Riemen- und Skullkonstruktion abhängig ist, obgleich es sich um eine künstlich erfundene, allerdings aus der Schifffahrt entwickelte Fortbewegungsweise mit eigenen artifiziellen Bewegungs- und Lernmethoden handelt, ist der Rudersport dennoch ein Natursport geblieben. Die Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur, mit den Elementen wird im Zusammenwirken mit und am Überwinden von Widerständen und Gefährdungen durch Wasser, Wind und Wellen deutlich. Der Rudersport bleibt in die Begegnung mit der Natur einbezogen: in Konfrontation oder als Einbettung? – Es gibt in diesem Sport sehr unterschiedliche Formen der Begegnung oder Auseinandersetzung mit der Natur: vom Spazierenrudern über das Fahrtenrudern, das Wanderrudern bis hin zum strapaziösen Langstreckentraining oder Rennrudern. Selbst das meditative Sich-Einstimmen in die Naturstimmung eines sonnenüberglänzten Sees am Rande des sich im Winde wiegenden Schilfs gehört zum Rudern.
7. Das Rudern ist ein rhythmischer Sport mit einfacher ästhetischer Bewegung in zyklisch sich wiederholender Abfolge. Erlebnisse des „Fließens“ („flow“), in denen man sich vom anscheinend selbständig gewordenen, sich selbst fortsetzenden Rhythmus einer als nahezu vollendet erlebten Bewegung getragen fühlt, sind im Rudern möglich. Im rhythmischen Schwingen liegt Genießen, Glücksempfinden. Man rudert „in a state of grace“, wie die Engländer sagen – im „begnadeten“ Zustand des Glücksempfindens, des rhythmischen Schwingens. Dies ist selten im Rennen, gelegentlich im Training bei völlig ruhigem Morgen- oder Abendwasser möglich.
Das Rudern kann rhythmisch elegant, geradezu tänzerisch sein, ein vollendeter Genuss für den vom „Flow“-Erleben Getragenen (s.u. Exkurs). Man erlebt dies sicherlich seltener in der klobigen Bewegungsarbeit im Zweier mit Steuermann, doch besonders im eleganten Doppelvierer, Doppelzweier, Vierer ohne Steuermann – aber auch im Achter: Der gelungene Achter-Rhythmus ist idealer Weise ein Gruppentanz von harmonischem Zusammenspiel. Er wird getragen durch das Mitschwingen eines vollkommenen Mannschaftskörpers – überhöht im Gruppengleichklang eines Glücksgefühls des fließenden Schwebens „auf den Schwingen“ des gleichtaktigen Bewegungsrhythmus: Der perfekte Achter, das ist der absolute Gleichklang: Harmonie, Flow par excellence!
8. Rudern ist insgesamt ein „reiner“ Sport der Eigenhandlung ohne „Show“, der persönlichen Eigenleistung geblieben – und dies hängt mit seiner Leistungsorientierung, Bewegungsstruktur, inneren Dramatik sowie der „Insider-Attraktivität“ und dem hervorstechenden Mannschaftscharakter zusammen. Höchstanforderungen an Selbstüberwindung, aber dennoch kein individuelles Herausragen des Einzelnen. Understatement ist eher die Regel. Ein Sport also, der besonders die überkommenen, so genannten „innengeleiteten“ Werte des „Mehr sein als scheinen“, „Mehr leisten als angeben, als vorgeben“ repräsentiert.
9. Das Rudern, so sahen wir, ist in vielfältiger Weise ein idealer Kombinationssport, der extreme Leistungsanforderungen – besonders im Training – mit innigem Zusammenwirken der Mannschaft verbindet, der Technik und Natur im Medium von Wasser und Luft, gegen Wind und Wellen, der Rhythmus, Balance und Geschicklichkeit mit Kraft, Ausdauer und Schnelligkeit vereint. Was die der Leistungsdimensionen angeht, so ist es eine der vielseitigsten Sportarten, so monoton von außen oft ein Ruderrennen aussieht (Von seltenen Bedingungen abgesehen, ist das Rudern auch ein relativ ungefährlicher Sport).
Als Zwischenfazit:
10. Der Rudersport verkörpert zumal und besonders rein das Ideal der mannschaftlichen Eigenleistung. Höchster Leistungseinsatz des Einzelnen für einen gemeinschaftlichen Erfolg, für die gemeinsame Leistung, die unerlässlich des gleichen Leistungseinsatzes jedes einzelnen Mannschaftsmitgliedes bedarf. Idealerweise ist Rudern der egalitärste Mannschaftssport. Er verbindet elitäre, aber echte, aktiv vollständig selbst erarbeitete hohe Leistung mit vollständiger Gleichheit, Einordnung und Unterordnung der Mannschaftsmitglieder unter das gemeinschaftliche Leistungsziel. In der Tat: Der Achter ist das eindrucksvollste Symbol dafür. Der Achter, das ist eben „die Mannschaft an sich“: die reinste Verkörperung der Gemeinschaftsleistung unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit aller Glieder. Rudern ist so gesehen die sozialste (in gewissem Sinne „demokratischste“) Leistungssportart überhaupt: die klarste Inkarnation der Gruppenleistung, der Leistung, die man nur gemeinschaftlich erreichen kann. Das Sinnbild der kooperativen und freiwilligen Leistung ist die in Gemeinsamkeit zusammenwirkende Mannschaft – zumal jene, bei der alle Mitglieder gleichförmig und gleichberechtigt zusammen handeln wie im größten Ruderboot. – Die Spannung zwischen den einzelnen und der Mannschaft, zwischen beiden und der größeren Gemeinschaft, zwischen Leistungsidee und Egalität, zwischen Eigenleistung und Erfolg, Trainingsaufwand und Ergebnis, zwischen Anstrengung und Anerkennung – all das spielt unterschiedlich wirksam mit hinein, würzt als Pfeffer die innere Dramatik und Mannschaftsdynamik. Rudern ist wohl der egalitärste Mannschaftshochleistungssport: „Alle sitzen gleich im Boot.“ – Der Achter ist daher, wie oben betont, ein machtvolles, ja, geradezu ein „mythisches“ Symbol für eine Verkörperung einer Gemeinschafts- und Gesamtleistung unter dem „Gesichtspunkt der Gleichheit aller Glieder“, der Gleichberechtigung aufgrund gleichförmig gestalteter Bewegungshandlungen. Er ist die klarste Verkörperung der gleichartigen, gar gleichförmigen Mannschaftsleistung, der Leistung, die man nur gemeinschaftlich und durch direkte Addition der Kräfte aller Mitglieder erreichen kann.
Der Große Achter – das Symbol einer echten Gemeinschaftsleistung par excellence!