Glücksgefühle am Ergo
von Jörn Harder
Ich habe ein Trauma. Und das heißt 1000 Meter Ergo. Diese Distanz ist zu kurz zum Taktieren und zu lang für einen alten Mann. Vor allem viel zu lang für einen Sprint. Und was macht man als alter Mann? Man sprintet sie trotzdem durch und hofft, dass es diesmal sicherlich nicht so schlimm werden wird. Aber natürlich wird es wieder so schlimm. Und schlimmer…
Als es beim Alster Ergo-Cup im November wieder mit diesen 1000 losging, hatte ich den Schmerz den Sommer über erfolgreich verdrängt. Aber bereits nach 500 Metern war er natürlich wieder da. Ich war so blau wie ein Sylvesterkarpfen. 3:17min standen da am Ende im Display. Nicht schlecht, fand ich. Meine Bestzeit ist 3:16 und die ist bereits 3 Jahre alt. Und das Beste war: Ich lebte noch.Wenn ich jetzt sagen würde, dass die weiteren Blöcke einfacher wurden, wäre das aber nicht richtig. Es gibt offensichtlich keine „einfache Ergodistanz“.
Die 6.000 Meter wurden hart und die 10.000 wurden härter. Und mit jeder neuen Challenge dachte ich wieder, dass es nicht mehr härter werden könne. Und dann kam auch noch Hannes. Hannes trainiert bei uns im Club. Aber er hat andere Trainingszeiten als ich. Ich kannte ihn daher eigentlich gar nicht so richtig. Aber jedes Mal, wenn ich die Ergebnislisten am Montag miteinander verglich, stellte ich fest, dass dieser Mensch entweder dicht hinter mir war, oder (was viel schlimmer war) ein paar Sekunden vor mir. „Wer ist bloß dieser Typ?“, begann ich mich zu fragen. Nach den 6000 Metern fingen wir an, uns Nachrichten über die Clubapp zu schicken. Natürlich hatte er unsere Sekundenabstände auch längst bemerkt. Zwar schrieben wir weiterhin freundlich formulierte Nachrichten. Aber es war klar, dass wir beide schon längst das Messer zwischen die Zähne genommen hatten. Wir spürten den Atem des jeweils anderen im Nacken. Wir hatten uns gegenseitig im Visir. Meine Taktik war, beim Halbmarathon nochmal richtig einen rauszuhauen. Das sollte mein „Finale“ werden. Die anschließenden 1000 wollte ich um keinen Preis der Welt nochmal angehen. Die 3:17 waren für mich nicht noch einmal zu erreichen. Ich musste allerdings feststellen, dass die 21,2 km verdammt lang sein können. Ich teilte mir die Strecke falsch ein und brach am Ende komplett ein. Hannes, dieser gerissene Fuchs, hatte offenbar genau das geplant. Er wartete an dem Wochenende so lange, bis ich mein Ergebnis in die Clubapp eingestellt hatte und setzte sich erst dann auf das Ergo. Er stellte mein Ergebnis (abzüglich 10 sec.) als Zielzeit ein und ruderte kontrolliert das Ding runter. Da für mich an dem Wochenende dann nochmal zu gegenzukontern war ausgeschlossen. Ich hatte überhaupt keine Lust mehr. Mein Hintern tat weh.

Also begann ich wieder über die 1000 Meter eine Woche später nachzudenken und winselte innerlich schon um Gnade.Unser Team aus dem Club beschloss, dass wir die 1000 Meter als letzte Distanz zusammen feiern wollten. Wir trafen uns gemeinsam am Freitag, deckten den Tisch im Clubraum schön ein und kochten was Leckeres. Das Essen stellten wir auf dem Herd warm, zogen uns um und setzten uns auf die Ergos. Und hier traf ich Hannes dann auch zum ersten Mal. Zu meinem Erstaunen war er aber nicht umgezogen. Er sagte, dass er die 1000 heute abgebrochen habe. Ich ahnte bereits was er vorhatte. Aber das ist bei den 1000 wesentlich schwerer als bei einem Halbmarathon. Bei 1000 Metern müssen binnen 3 Minuten alle Karten auf den Tisch gelegt werden. Keine Zeit zum Taktieren. Und so, also wieder ohne Taktik sprintete ich los. Dass wir an diesem Freitag eigentlich ein gemütliches Essen und Beisammensein geplant hatten, war mir plötzlich egal. Ich war fest entschlossen „All in“ zu gehen. Und wenn ich am Ende vom Ergo rutschen sollte, so wäre mir das auch egal. Schließlich hatten wir zwei Ärzte vor Ort. Einer von den Ärzten war Hannes. Ob der mich aber am Ende retten würde, war nicht gewiss. Das hinge wohl von meiner Zeit ab. Ich nahm das Zugseil in die Hände, atmete dreimal durch und dann kam das Signal. „Schlagzahl, Schlagzahl…“ dachte ich. „Die ersten 10 Schläge schön schnell, bevor es in den Streckenschlag gehst…8,9, 10…Jetzt Streckenschlag…. Nicht nachlassen…. Oh Gott, du bist viel zu schnell, dass hälst das niemals durch….Rücken gerade!!…Wie lange noch?….Mist, erst bei 800… verdammt, das geht gegen den Baum…gleich kommt der Mann mit dem Hammer um die Ecke…. Gleich…. Wie lange noch?….erst 750…. Klemmt dieses verdammte Ergo, oder was?….. 700…denk, jetzt nicht drüber nach, dadurch geht es auch nicht schneller….ich brauche Luft….wo kommt der Mann mit dem Hammer denn jetzt schon her?… gleich Halbzeit… verdammt erst Halbzeit?…. das schaffe ich nie…. nicht aufgeben, nicht aufgeben…..550…. immer noch keine Halbzeit….der Speed fällt,… nur noch 1:42/500… 1:44/500….noch 350 Meter…. Oh Gott, ist der Hammer aber diesesmal gross….er holt aus….Das sind nur noch 35 Schläge…. 1…2….1:47/500….das wird nichts diesmal…. einfach weitermachen…. ist doch alles Quatsch, dieser Alsterscheiss….soll Hannes doch vorbeiziehen, ich gebe auf…. Mir doch egal….Nein, nicht aufgeben, solange Hannes hinter dir steht…..Aua….Aua…. Noch 100, 80…10…. durch.“ Ich war komplett erledigt. Die Arme schmerzten, die Lunge brannte und völlig erschöpft krümmte ich über dem Display.


Links und rechts von mir schossen die anderen Fotos von sich und dem Ergo. Hannes fotografierte mich. Er grinste. Ich versuchte zu lächeln. Es gelang mir nicht. 3:21min. So schlecht war ich noch nie. Naja, ich war im Januar auch krank und habe nicht gut trainieren können. Dann der Stress auf Arbeit grade. Außerdem baue ich unseren Keller zu Hause aus. Dann die 21,2 km letzte Woche. Zudem werde ich nächste Woche ja auch schon 48. Da darf man nicht zu streng mit sich sein. Verdammt, aber 3:21min. Und Hannes hatte abgebrochen…?Als wir dann zusammen den Abschluss der Ergochallenge feierten, stellte ich fest, wie die Zeit mehr und mehr in den Hintergrund rückte. Das waren alles richtig feine Leute, die hier am Tisch saßen. Auch Hannes! Ein richtig netter Kerl. Schade eigentlich. Vielleicht hätte ich mich mehr angestrengt, wenn er ein fieser Knochen gewesen wäre. Und diese Jagd nach den Sekunden den ganzen Winter über. Das war doch irgendwo auch richtig lustig. Ist das nicht die eigentliche Seele vom Sport? Man gibt sein Bestes, auch wenn keiner zusieht. Auch ohne Medaillen. Und wenn ein anderer besser ist, dann ist das eben mal so. Da kann man trotzdem hinterher zusammen lachen und Freunde werden. Ich hatte einen wunderbaren Abend. Mit Hannes und den anderen. Wir haben viel gelacht. Gegen Ende meinte mein Erzrivale, dass er am Sonntag ja nochmal die 1000 versuchen könnte, um mich zu überholen. Ich lachte noch und meinte, dass ihm das wahrscheinlich ähnlich sehen würde. Aber er solle sich nicht wundern, flaxte ich zurück, wenn ich dann Montag meinerseits nochmal kontern würde. Wir stießen zusammen an und versprachen uns, dass wir, jetzt wo wir uns so prächtig verstehen, unbedingt im Sommer mal zusammen 2er fahren müssen.


Als wir auseinandergingen hatte ich mich mit mir, meiner Zeit, Hannes und der Ergochallenge versöhnt.Am Sonntag dann, ich war gerade dabei in meinem Keller eine Wand zu verputzen, hörte ich das „Pling“ meiner Clubapp. Noch bevor ich das Handy mit den Betonhänden aus meiner Arbeitshose fischte, wusste ich, wessen Nachricht ich sehen würde. Und tatsächlich: Hannes hatte geschrieben. Ich öffnete das Foto und sah Hannes, wie er und das Display des RowErg, in inniger Umarmung, zusammen in die Kamera grinsten. Da stand 3:18min. Und darunter: „Schöne Grüße Hannes. Das war ein wunderbarer Abend mit Dir am Freitag. Wir sehen uns im Sommer auf dem Wasser. Ich hätte Lust auf einen Zweier.“ Ich steckte das Handy wieder in meine Arbeitshose und verputzte weiter grimmig die Wand.
„Wer war das?“ fragte mich mein Sohn. „Hannes…!“, sagte ich. „Und was wollte er?“. „Ach, er…“, begann ich, und stockte. Dann entschloss ich, meinem Sohn alles zu erzählen. Er ruderte auch. Sicher würde er es verstehen. Als ich fertig war, sagte er: „Papa, das ist doch gar kein Problem. Du gehst einfach heute Abend in den Club und machst eine 3:17!“. „Wenn das mal so einfach wäre“, gab ich zur Antwort. 3:17 bin ich letztes Jahr im November genau einmal gerudert. Da war ich in Topform. Vorgestern war ich bei 3:21. Vor drei Jahren in Rendsburg, da bin ich mal 3:16 gerudert. Aber das ist lange, lange her…. Außerdem muss ich noch diese Wand zusammen mit Dir verputzen und habe morgen Geburtstag. Ich werde 48. Da werde ich mich doch heute nicht mehr abschießen. Schon gar nicht, um nochmal 3:21min oder 3:23min zu rudern.“ Ich hatte das Gefühl, dass das mein Jüngster verstehen konnte. Ich wusste aber auch, dass er als Sportler eigentlich kein Verständnis fürs Aufgeben hat. Und wie sagen wir uns beide immer wieder?: „Vorbei ist erst, wenn man unter der Dusche steht“. Cool wäre es daher schon, noch einen Konter zu fahren. Aber woher nehmen? 1000 Meter sind hart und kein Hollywooddrehbuch.
Am Montagmorgen dann Geburtstag. Alle hatten sich richtig Mühe gegeben. Ich freute mich, dachte aber schon an die Arbeit. Da würden die Kollegen auch auf mich warten. Ich würde Kuchen ausgeben müssen. „Verdammt“ dachte ich, „ich muss noch Kuchen holen. Und den dann irgendwie heil in das Büro bringen. Auf dem Weg zum Büro muss ich am Ruderclub vorbei.
„Ach, so ein Quatsch….Ruderclub….Du hast heute Geburtstag und wirklich genug zu tun. Lass den Mist. Soll Hannes doch….!“Auf dem Weg zur Arbeit setzte ich spontan den Blinker und bog ab. Vor dem Club glitzerte der See in der Morgensonne. „Was für ein schöner Tag“, dachte ich „Und ich habe heute Geburtstag. Man sollte das genießen, anstatt…. Noch kannst du umdrehen. Dich hat keiner gesehen.“ Minuten später saß ich auf dem Ergo und ruderte mich warm. Die 10 Minuten vergingen schneller als ich es gehofft hatte. Dann war es soweit. Also, tatsächlich ein weiteres Mal durch das tiefe dornige Tal des Laktats? Eisengeschmack im Mund, schmerzende Arme, pfeifende Lunge all den ganzen Scheiß. Echt jetzt?….3…2…1“.
Schon nach 500 Metern wusste ich, dass es diesmal besser werden würde. Nach 750 Metern kam zwar wieder der Mann mit dem Hammer um mir zu Geburtstag zu gratulieren, doch hielt ich es für möglich, dass ich ihn noch ein bisschen hinhalten könnte. Er schlug dann hart zu. Aber das war erst in dem Moment, als das Display schon dabei war, die erlösende 0 anzzuzeigen. Daneben standen 3:14,9min auf der Anzeige. Mit zitternden Händen tastete ich nach meinem Handy. „Foto…. Foto… bevor die Anzeige verblasst. Ich brauche ein Foto. Das glaubt Dir niemand!!!“ Zur Sicherheit schoss ich gleich 15 Bilder.


Unmittelbar im Anschluss ein Foto, nur für Hannes. Ich wurde durchströmt von einem Gefühl reinen Glücks. Ein Gefühl wie der Sonnenaufgang über dem See. So, als wäre man mit einem rostigen Hacken ans Meer gefahren und unverhofft mir dem dicksten Fisch der Weltmeere heimgekehrt. Ein ungläubiges Gefühl diebischer Freude. Aber es stand ja wirklich da. Das Display lügt nicht: 3:14,9 min. Und das an meinem 48. Geburtstag. Bin ich Benjamin Button, oder was? Vielleicht werde ich ja immer jünger? Den weiteren Tag, verbrachte ich tanzende wie auf einer Wolke. Ich weiß: Ergo, Hannes, Zeiten….Das ist alles nicht wichtig. Totaler Quatsch ist das. Aber eines weiß ich auch: Mein Glück an diesem Morgen war echt. Und dann stand ich unter der Dusche.